Robert Doerr und der Boom der Basler Hygiene-Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Bereits 1892 wurde an der medizinischen Fakultät ein hygienisches Institut eingerichtet. International renommiert wurde es aber erst ab 1912 unter der Leitung von Robert Doerr. Dem Mediziner österreichisch-ungarischer Herkunft war es innert weniger Jahre gelungen, im «Stachelschützenhaus» ein wissenschaftlich hochkarätiges mikrobiologisches Forschungsinstitut zu etablieren, das auf dem Feld der experimentellen und theoretischen Virusarbeiten zu den Vorreitern der internationalen Forschung gehörte. Bis zum Ende seiner wissenschaftlichen Karriere blieb Doerr in Basel, obwohl er «in ein grosses Institut mit unermesslichen Hilfsmitteln» gehört hätte, wie der Rektor kurz vor Doerrs Emeritierung 1942 verlauten liess.

Die Basler Hygiene zwischen 1892 und 1919 «auf bescheidenem Fuss»
Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Bakteriologie aufgrund ihrer gesundheitspolitisch viel versprechenden Ansätze innerhalb der Hygiene-Forschung zur Leitwissenschaft auf. Seit den 1880er-Jahren wurden an zahlreichen deutschen Universitäten in der Folge hygienische Lehrstühle eingerichtet. Nachdem auch in Zürich und Genf Institute für Hygiene geschaffen worden waren, fühlte sich die medizinische Fakultät in Basel unter Zugzwang und schlug dem Grossen Rat 1892 vor, ein hygienisches Institut «auf bescheidenem Fuss» einzurichten. Eine Institutsgründung bot sich in Basel zudem 1892 nicht zu letzt deshalb an, weil im Gebäude des Laboratoriums des neu angestellten «öffentlichen Chemikers» ein Stock frei geworden war, dessen Nähe zum Hygieniker auf der Hand lag.

Erster ausserordentlicher Professor des neuen Lehrstuhls wurde Albrecht Burckhardt, dem zugleich die schulärztliche Aufsicht des Kantons und Ratgerberaufgaben im öffentlichen Sanitätswesen übertragen wurden. Als bakteriologisch informierten Hygieniker konnte man Burckhardt aber nicht bezeichnen, vielmehr orientierte er sich an der älteren physiologisch-chemisch ausgerichteten Hygiene. Die Vermutung liegt nahe, dass man anfangs die Aufgabe der ärztlichen Beaufsichtigung der Schulen im Kanton als wichtiger als den Aufbau eines leistungsfähigen und international konkurrenzfähigen Hygieneinstituts gewichtete. Erst mit der Umstrukturierung des Instituts und dem Rücktritt von Burckhardt 1919 war der Weg frei für eine grundlegende Neuausrichtung und Neupositionierung der Basler Hygiene. Und die Medizinische Fakultät nutzte die Chance: Auf Platz eins der Kandidatenliste für den Lehrstuhl der Hygiene setzte sie im August 1919 Robert Doerr. 

Mit Robert Doerr kommt ein «Meister der Bakteriologie» nach Basel
Neben seinem exzellenten wissenschaftlichen Ausweis sprach auch Robert Doerrs Talent für die Lehre für ihn. Was für die Basler Behörden letztlich aber den Ausschlag gab, war Doerrs wissenschaftliches Profil: Sein Forschungsgebiet sei dasjenige der Bakteriologie, der Serologie und der Erforschung der Infektionskrankheiten - Gebiete, die in Basel bisher «wenig betreten» worden seien und gerade in der gesundheitlich beunruhigenden Nachkriegszeit von Nutzen sein konnten. Mit klaren, den Bruch gegenüber der Ära Burckhardt deutlich markierenden Worten wurde dem Erziehungsdepartement die Berufung Doerrs empfohlen: «Der Kuratel ist der Ansicht, dass gerade in der Nachkriegszeit ein Meister der Bakteriologie und aller sich daran anschließender wissenschaftlicher Zweige für Basel eine gute Erwerbung sein könnte.»

Dass die Entscheidung für Doerr die richtige gewesen war, zeigte sich schon in den ersten Jahren des ab September 1919 tätigen Lehrstuhlinhabers. Er sorgte für eine massive Erweiterung der Räumlichkeiten sowie eine adäquate infrastrukturelle und personelle Ausstattung des Instituts. Im hygienischen und bakteriologischen Unterricht explodierten die Studenten- und Hörerzahlen geradezu. Bedeutsam für den Aufstieg der Basler Hygiene war aber nicht nur die Begeisterung, die Doerr unter Studenten und Hörern für sein Fach zu entfachen vermochte, sondern vor allem die am Institut getätigten Forschungen. Bekannt wurden die Basler Studien über die so genannten Bakteriophagen - vermehrungsfähige bakterienauflösende Stoffe - und die Arbeiten über die Herpes- und Encephalitis-Virusarten sowie über die Hühnerpest und das Fleckfieber. Grosszügige Spenden der Gesellschaft für Chemische Industrie und der amerikanischen Rockefeller-Foundation erlaubten es Doerr in den 1930er Jahren, in der internationalen Konkurrenz mitzuhalten.

In Doerrs Überblicksdarstellungen, aber auch in einzelnen Vorträgen und Aufsätzen kam immer wieder seine Bemühung zum Ausdruck, sowohl das Feld der Virologie als auch die Problematik der Infektionskrankheiten im breiteren Kontext aller anderen biologischen Wissenschaften zu behandeln und die medizinische Begriffsbildung kritisch zu reflektieren. So wehrte er sich beispielsweise vehement gegen die metaphorisch strukturierte Auffassung der Infektion als «Kampf» zwischen dem «feindlichen» Erreger und dem «angegriffenen» infizierten Organismus und propagierte eine parasitologisch-biologisch fundierte Perspektive, welche die Infektion als eine auf gegenseitigen Anpassungsmechanismen basierende «Gast-Wirt-Beziehung» beschrieb. 

Der reputierte Hygiene-Professor bleibt dem Basler «Stachelschützenhaus» treu
Dass die «Hygienische Anstalt» mit Doerr an Reputation gewann und durchaus karrierefördernd wirken konnte, illustrieren auch die Erfolge ehemaliger Schüler und Mitarbeiter. Gerhard Rose kehrte nach seiner Assistenzzeit bei Doerr 1925 ans Robert Koch-Institut zurück und durchlief als ehemaliges Freikorpsmitglied und frühes Mitglied der NSDAP eine steile Karriere in der Tropenmedizin und als beratender Hygieniker im Sanitätswesen des Dritten Reichs. Ob Doerr über Roses zweifellos schon in den 1920er-Jahren erkennbaren politischen Positionsbezüge informiert war, ist nichts bekannt. Dass Doerr selbst mit völkischem oder nationalsozialistischem Gedankengut sympathisiert hätte, lässt sich allerdings mit Sicherheit ausschliessen. Dafür sprechen nicht nur die Zusammensetzung seines Mitarbeiterstabes, sondern auch seine Bemühungen, Mitarbeitern oder Schülern nach dem politischen Umsturz in Deutschland Hilfestellungen für die Ausreise in die USA zu geben oder für ihre längere Anstellung in Basel zu sorgen.

Doerr blieb trotz zahlreichen Rufen an andere Universitäten im «Stachelschützenhaus» in Basel. Die Gründe für seinen Verbleib sind vielfältig und können auf der Basis der in der Schweiz gesichteten Quellen nicht im Detail rekonstruiert werden. Kurz vor seiner Emeritierung sprach der Rektor im Jahr 1942 dem inzwischen renommierten Professor seinen Dank aus und schloss feierlich mit den Worten: «Sie hätten in ein großes Institut mit unermesslichen Hilfsmitteln hineingehört. Damit, dass Sie Ihr großes Werk in dem kleinen Stachelschützenhaus mit seinen bescheidenen Einrichtungen durchführen, erbringen Sie den Beweis, dass nicht die Räume, die verfügbaren Gelder und der Umfang der Assistenten den Erfolg des Forscher bedingt, sondern dass seine Persönlichkeit allein massgebend ist.»