Universitätsgesetz 1866: Grundstein zum 100jährigen Ausbaukontinuum

Zwischen den 1860er und den 1960er Jahren erfuhr der Lehrkörper einen kontinuierlichen Ausbau. Die Universitätsreform legte 1866 den Grundstein, der besonders die Entwicklung der Medizinische Fakultät schlagartig beschleunigte. Der Ausbau der Ordinariate in den Geisteswissenschaften geschah langsamer als in den Naturwissenschaften und langsamer als an den deutschen Universitäten.

Die universitätshistorische Forschung hat für die Jahre um 1870 – ähnlich wie um 1960 – einen allgemeinen «Wachstumssprung auf ein neues Entwicklungsplateau» (Hartmut Titze) festgestellt. An den meisten europäischen Universitäten sprang in jenen Jahren die Zahl der Absolventen und Absolventinnen auf eine höhere Entwicklungsstufe, die im Kontext der zweiten Industriellen Revolution strukturell verankert war.

Dieser statistische ‹Knick› lässt sich auch an der Studierendenfrequenzen in Basel festmachen. Hinsichtlich des Basler Lehrkörpers markiert die Zeit um 1870 gleichzeitig jenen Wendepunkt, an dem der seit 1818 diskontinuierliche, sich in Schüben vollziehende Ausbau in ein epochenprägendes Ausbaukontinuum überging. Dieses Ausbaukontinuum sollte fast ein volles Jahrhundert bis in die 1960er Jahre anhalten, um schliesslich in ein strukturell neues Verlaufsmuster umzuschlagen.

Der stetige Personalausbau beruhte in rechtlicher Hinsicht auf der Universitätsreform der 1860er Jahre. Die wichtigste Neuerung des Universitätsgesetztes von 1866 gegenüber jenem von 1835 bestand diesbezüglich in der Aufwertung der Juristischen und der Medizinischen Fakultät. Unter dem Spardruck der durch die Kantonstrennung halbierten Staatsfinanzen waren sie zu propädeutischen Vorbildungsanstalten zurückgestuft worden. Ihre personelle Ausstattung war stark eingeschränkt. Das neue Gesetz von 1866 erhob sie zu vollwertigen Fakultäten. 

Globale Trends, lokale Blockade
Diese Universitätsreform war eine Facette des allgemeinen Reformklimas, das den Stadtkanton in den Jahren vor dem Ende des «Ratsherrenregiments» 1875 prägte und sich zum Beispiel in der Abschaffung des Ehegerichts, der Strafrechtsrevision oder einer (gescheiterten) Zivilrechtskodifizierung zeigte. Der unmittelbare Impuls zur Universitätsreform ging aber aus jener Konkurrenzsituation, in die sich Basel zu anderen Schweizer Universitäten gesetzt hatte: Es galt, sich im Wettlauf um den Standort der diskutierten (aber nie realisierten) eidgenössischen «Zentraluniversität» zu profilieren.

Die Idee einer Universität auf Bundesebene war schon im Umkreis der Helvetischen Gesellschaft lanciert und seither immer wieder diskutiert worden. Nur wenige Jahre nach der Gründung der Eidgenössischen Technischen Hochschule rollte 1862 ein Antrag im Basler Grossen Rat die Debatte wieder auf. Für die Mehrheit der Grossräte, die sich für eine Basler Kandidatur aussprachen, war klar, dass der Standort Basel unter der propädeutischen Restriktion von 1835 chancenlos bleiben würde.

Für die Medizinische Fakultät wirkte das Gesetz von 1835 besonders entwicklungshemmend. Dass durch das neue Gesetz eine Blockade aufgehoben worden sein muss, zeigt sich besonders deutlich an der numerischen Entwicklung der Ordinarien, wie sie in den Personalverzeichnissen dokumentiert ist: Die Zahl der ordentlichen Professoren der Medizin verdoppelte sich nach 1866 in kürzester Zeit von 5 auf 10. Dieser Ausbauschub ging offenbar zu Lasten der Naturwissenschaftler, deren Ordinarienbestand für eine mehrjährige Zwischenzeit um die Hälfte zusammensackte. Die Zahl der Ordinarien der Juristischen, der Theologischen und der Philosophisch-Historischen Fakultät stagnierten im unmittelbaren Nachhall von 1866 oder legten nur wenig zu.

Hinter diesem rapiden Aufstieg der Medizin standen zwei globale Trends, die durch die propädeutische Restriktion lokal hinausgezögert worden waren und nun mit dem neuen Gesetz kumuliert zum Tragen kamen. Aspekte dieses Wandel werden in der historischen Forschung auch mit dem Begriff der Medikalisierung angesprochen. Zum einen spielte die Medizin im Prozess der modernen Disziplinenbildung generell eine Vorreiterrolle, die sie mit den Naturwissenschaften teilte. Die akademische Medizin hatte bis ins 19. Jahrhundert ein sehr vielfältiges Wissenskorpus umfasst, zu dem Versatzstücke aus der antiken Humoralpathologie und Anthropologie ebenso zählten wie Elemente aus Geschichte, Naturphilosophie und Metaphysik oder neuere Erkenntnisse wie etwa der «galvanischen Elektrizität» oder des «thierischen Magnetismus» (Mesmerismus). Diese Vielfalt entsprach einer holistischen Optik, die den Körper nicht vom Geist zu trennen können glaubte.

Von der «Bucharznei» zur «Wundarznei»
In Ablösung von diesem Korpus, teils auch in seiner Fortführung, bildete die moderne Medizin im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Leitdisziplinen – Physiologie, Anatomie, Pathologie, Chirurgie, Gynäkologie und Psychiatrie – heraus. Dies geschah in enger Kommunikation mit den naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden und Erkärungslogiken. Mit Hilfe von Laborexperimenten, mikroskopischen Beobachtungen, chemischen und physikalischen Analysen gewann der menschliche Körper allmählich die Gestalt einer thermodynamischen Maschine, deren einzelne Funktionen mit mathematischer Präzision messbar und in ihrem Zusammenspiel eindeutig beschreibbar wurden.

Der Strukturwandel der Gesundheitsversorgung war der zweite Prozess, der 1866 nachholend zum Tragen kam und die universitäre Medizin stark aufwertete. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielten die akademischen Mediziner als «gelehrter Stand» nur eine untergeordnete Rolle in der Behandlung von Kranken. Diese wurde vorwiegend von Hebammen und Heilern, Wundärzten oder Quacksalbern geleistet. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlangten die akademischen Ärzte eine monopolartige Stellung: Als professionalisierte Berufsgruppe standen sie am Krankenbett. Und als wissenschaftliche Experten prägten sie die Gesundheitspolitik der Industriestaaten, die in der «Volkskraft» zunehmend die militärischen und wirtschaftlichen Voraussetzung der nationalen Selbstbehauptung in der internationalen Staatenrivalität und Wirtschaftskonkurrenz erkannten.

Die beiden Entwicklungen zeichneten sich in Basel seit 1818 ab, als das neue Universitätsgesetz der klassischen «Bucharznei» neu einen Lehrstuhl für Anatomie, Chirurgie und Entbindungskunst beiordnete und die «Wundarznei» damit akademisierte. 1835 wurde diese Richtung zwar grundsätzlich bestätigt, indem das neue Universitätsgesetz zwei Lehrstühle zugunsten der Physiologie und Pathologie umwidmete. Da die Fakultät gleichzeitig zu einer propädeutischen Antalt zurückgestuft wurde, blieb der Wirkkreis der Ordinarien jedoch auf die theoretische Vorbildung beschränkt.

Erst der sog. Klinikvertrag von 1865 brachte den entscheidenden Durchbruch für den Strukturwandel der Gesundheitsversorung und der entsprechenden Aufwertung der akademischen Medizin. Die Vereinbarung zwischen Kanton und Bürgerspital garantierte, dass die Medizinische Fakultät für das Klinikum – d.h. für die praktische Ausbildung am Patienten – künftig mit den Spitälern verbunden war. Gleichzeitig wurde begonnen, die Spitalinfrastruktur zu erneuern und auszubauen (Kinderspital 1862, Neubau Bürgerspital 1868, Augenheilanstalt 1877, «Irrenanstalt» Friedmatt 1886). Dieser Wandel war nicht zuletzt eine Reaktion auf den um 1850 einsetzenden, bald beschleunigten Urbanisierungsprozess, durch den die sanitärischen Verhältnisse sich zuspitzten. 1855 wütete eine Cholera-, 1865 eine Typhusepidemie in Basel.

Horizontaler und vertikaler Ausbau
Im Blick auf die beiden Philosophischen Fakultäten interessiert speziell die Entwicklung der Lehrstuhlgründungen. Dies erlaubt es das aus den Personalverzeichnisse gewonnene Bild, das die numerische Verteilung der Personalressourcen zwischen den Fakultäten zeigt, um fachspezifische Nuancen zu verfeinern. Das ist für die Natur- und Geisteswissenschaften besonders wichtig, weil sie je recht heterogene Fächer versammeln. Selbstverständlich ist nicht jeder neu geschaffene Lehrstuhl einer neuen Disziplin gewidmet. Man muss zwischen horizontalem und vertikalem Ausbau unterscheiden: Der Ausbau der Lehrstühle in der Horizontalen verbreitert das disziplinäre Spektrum um neue Fächer, der Ausbau in der Vertikalen stockt etablierte Fächer um zusätzliche Ordinariate auf.

Für die Geistes- und Naturwissenschaften an den deutschen Universitäten ist der Gang der Lehrstuhlgründungen eingehend erforscht. Bis 1870 war die «Grundausstattung» (Marita Baumgarten) in den naturwissenschaftlichen Fächern im wesentlichen komplett: Mathematik, Physik, Chemie, Mineralogie, Botanik, Zoologie und Geographie waren an fast allen Universitäten durch eigenständige Ordinariate vertreten. Die Vervollständigung der Grundausstattung in den Geisteswissenschaften erfolgte dagegen verzögert. Die Kernfächer wurden ab den 1890er Jahren besonders gefördert und waren erst in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vollständig. Im Jahr 1914 verfügten die allermeisten Universitäten über Lehrstühle für Philosophie, für die antiken, orientalischen und neuen Philologien und die vergleichende Sprachwissenschaft, für die ältere und neuere Geschichte sowie für Archäologie und Kunstgeschichte. Erst jetzt holten die Geisteswissenschaften den Rückstand ein, den sie seit dem Verglimmen des neuhumanistischen Bildungsideals Mitte des 19. Jahrhunderts eingefahren hatten.

Die Lehrstuhlentwicklung an der Universität Basel stimmt mit diesen Trends insgesamt überein, weicht davon aber in einer Hinsicht auffallend ab. In den Naturwissenschaften hielten die Lehrstuhlgründungen Schritt mit der Entwicklung an den deutschen Universitäten. Spätestens seit der Reform von 1818 waren Mathematik, Naturgeschichte (inklusive Botanik) sowie Chemie und Physik (seit 1852 aufgespalten) mit Ordinariaten dotiert. Mit der Teilreform 1855 kam die von Ludwig Rütimeyer prominent vertretene Zoologie hinzu, mit dem neuen Universitätsgesetz von 1866 zudem ein Lehrstuhl für Mineralogie und Geologie. Das einzige Fach, das mit Verspätung auf die deutsche Entwicklung erst 1911 zu einem eigenen Lehrstuhl kam, war die Geographie. Damit war die naturwissenschaftliche Grundausstattung komplett.

Verzögerte Verbreiterung in den Geisteswissenschaften
Die Komplettierung in den geisteswissenschaftlichen Fächern dagegen erfolgte – erwartungsgemäss – langsamer als in den Naturwissenschaften, aber auch – erstaunlicherweise – langsamer als an den deutschen Universitäten. Zwischen dem Universitätsgesetz von 1866 und jenem von 1937 wurden die geisteswissenschaftlichen Lehrstühle kaum horizontal, sondern vor allem vertikal ausgebaut: Philosophie, Germanistik, Romanistik und Nationalökonomie wurden je doppelt, Geschichte gar dreifach besetzt.

Diese Aufstockung schlug sich seit der Zeit um 1900 als Vermehrung der geisteswissenschaftlichen Ordinariaten in den Personalverzeichnissen nieder. Sie stimmt zeitlich mit dem Trend zur Förderung der Geisteswissenschaften überein. Die Verbreiterung des geisteswissenschaftlichen Fächerkanons dagegen hielt nicht Schritt mit der Entwicklung an den deutschen Universitäten. Zwischen 1866 und 1937 wurden bloss zwei bisher undotierte Fächer mit Lehrstühlen versehen: Kunstgeschichte und englische Philologie. Dagegen verfügten die Orientalisitik, die vergleichende Sprachwissenschaft und die Archäologie 1937 noch immer über keine etatmässigen Lehrstühle, während sie an den meisten deutschen Universitäten vor 1914 im Rahmen der Vervollständigung der Grundausstattung dotiert worden waren.

Diese auffallende Verzögerung hat damit zu tun, dass die städtische Bildungselite spätestens seit der Kantonstrennung in Basel so ungewöhnlich eng mit der Universität und besonders mit der Philosophischen Fakultät verflochten war. Die Universität als «bürgerliche Akademie», wie sie 1835 wieder aufgerichtet worden war, wurde zu nicht unwichtigen Teilen von privaten Leistungen – Ehrenämter und unbesoldete Dozenturen, Stiftungen und Schenkungen – getragen. Im Gegenzug bediente sie die neuhumanistischen Bildungs- und Repräsentationsbedürfnisse der Bürgerschaft.

Die disziplinären Lücken, die auf Gesetztesebene noch 1937 zwischen den geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen klafften, gingen direkt auf diese Verflechtung zurück. 1874 legte ein Legat der Familie Vischer-Heussler die Basis für eine Stiftung, die unter dem Patronat der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft fortan Professuren in den Fächern Vergleichende Sprachwissenschaft (inklusive Sanskrit) und Archäologie finanzierte. Im 20. Jahrhundert wurden diese privaten Mittel erst allmählich durch staatliche ersetzt, zunächst in der Form planmässiger Lehraufträge, in den 1950er Jahren dann durch die Einrichtung persönlicher Ordinariate.