1910: Ein Zwischenjubiläum
1910 war ein weiteres Jubiläum fällig. Man war sich zwar bewusst, dass es bloss um einen «bescheidenen» Anlass gehen könne, weil mit 450 Jahren nicht ein volles Säkulum zu feiern war. Obwohl das «Zwischenjubiläum» weniger gross angelegt war als die Feiern von 1860 und 1960, vereinigte aber auch dieses alle zentralen Merkmale, die Jubiläumsfeiern ausmachten: einen Zug durch die Stadt, abends ein Bankett, viele Ansprachen und lobende Festrhetorik, vermischt mit Anspielungen auf die Zustände der Gegenwart. Bemerkenswert waren auch die materiellen Gaben, die der Universität zum «halbrunden» 450. Geburtstag überreicht wurden.
Hundert Jahre zuvor hatte man die 350 Jahre der Universität Basel nicht begangen. Aber Jubiläumsfeiern waren im Verlaufe des 19. Jahrhunderts mit stets grösserem Aufwand inszeniert worden. Und auch das Feiern anderer Gedenkanlässe war en vogue: 1907 war eine Feier zum dreihundertstens Geburtstag Leonhard Eulers und 1909 ein Feier zum vierhundertsten Geburtstag Calvins fällig. Und schon 1901 hatte man in der ganzen Stadt die vierhundertjährige Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft gefeiert. Es wäre also nicht in Frage gekommen, die 450 Jahre ungefeiert an sich vorbeiziehen zu lassen.
Zur Jubiläumsfeier, vom Rektor Karl von der Mühll als «Familienfest» bezeichnet, waren alle Schwesteruniversitäten des Schweizerlandes geladen, aber auch des rheinischen Reichslandes (Freiburg, Strassburg, Heidelberg). Die schweizerische Landesregierung wollte sich durch den Basler Bundesrat Ernst Brenner vertreten lassen – wegen Erkrankung musste dieser im letzten Moment jedoch absagen. Von den Kantonsbehörden war einzig diejenige des benachbarten Kantons Basel-Landschaft anwesend – und übrigens mit einer lateinisch verfassten «raurachischen» Grussbotschaft im Festbericht verewigt. Als besonderen Gast konnte man den Romanisten Hermann Fitting begrüssen, der beim Jubiläum von 1860 bereits dabei war und das für solche Anlässe wichtige Band zur Vergangenheit verkörperte. Und auch auf die 150 Jahre zurückliegende Feier verwies man 1910: Bezeichnenderweise zeigten die Tischkarten den Mechelschen Stich für die Universitätsfeier von 1760. Man bediente sich aber nicht nur der Strategie der Jubiläumsverkettung, um die Bedeutung des «Zwischenjubiläums» hervorzuheben, sondern suchte ebenso den Bezug zur Gründungsgeschichte der Institution. Georg von Andlau war in diesem Sinn als «erlauchtes Glied» aus der Familie des ersten Rektors der Universität eingeladen worden.
Festrhetorik und aktuelle Nebenbemerkungen
Die diversen Reden ergingen sich einerseits in ritueller Rhetorik, anderseits liessen sie auch aktuelle Themen anklingen. Zum rituellen Reden gehörten das Beschwören der Treue der Stadt gegenüber der Universität und das Betonen des Nutzens der Universität für die Stadt – es bestehe wechselseitig eine «tiefe» Verbundenheit.
Zur traditionellen Festrhetorik gehörten im Weiteren das Lob auf die erfolgreiche Überwindung von allerhand Krisen in der wechselreichen Geschichte der Universität sowie das allgemeine Lob auf die Jubilarin, die sogar als «Königin und Hohepriesterin» apostrophiert wurde. Halbwegs bereits zur Tagespolitik gehörte, dass man der Universität Basel grosse Verdienste im Verhindern der – als Leviatan bezeichneten – eidgenössischen Universität zuschrieb (Ferdinand Vetter, Senior der schweizerischen Rektoren, Germanistikprofessor und Rektor der Universität Bern, Festspieldichter und Gotthelf-Herausgeber), obwohl es gerade in diesem Kanton starke Kräfte gegeben hatte, welche auf diese Weise ihre Hohe Schule hatten loswerden wollen.
Verhältnis zum Staat
Auffallend, wenn auch ohne expliziten Bezug, war die während der Jubiläumsfeierlichkeiten wiederholte Thematisierung des Verhältnisses zwischen Universität und Staat. So räumte Regierungsrat Richard Zutt in seiner Festakt-Ansprache ein, dass diese Beziehungen «nicht immer die freundlichsten» gewesen seien, und fügte bei, die Universität sei heute nicht mehr ein Staat im Staate mit einer «selbstherrlichen» und durch Privilegien geschützten Stellung, sondern habe sich als staatliche Unterrichtsanstalt dem Verwaltungsorganismus einzufügen und der Staatshoheit zu unterordnen gehabt.
Eberhard Vischer griff in seiner Münster-Rede diese Problematik ebenfalls kurz auf, indem er von «unfruchtbaren Streitigkeiten um überlieferte Rechte» sprach. Während des anschliessenden Banketts äusserte sich mit Paul Speiser ein weiteres Regierungsmitglied zum Thema. Vom Staat als «dem guten Vater» der Universität sagte er: «So absolut ist die staatliche Herrschaft nicht, denn nicht der Staat feiert das Wiegenfest, sondern die Universität selber hat es angeordnet, und der Staat erscheint bei ihr als Gast. (...) Und da die Regierung jeweilen an diesem Werk ein grosses Mitverdienst hatte, so feiert sie gerne mit und benützt auch ihrerseits die Gelegenheit, am heutigen Festtage nicht kritisiert, sondern gerühmt, wenn auch nicht geradezu bewundert zu werden.»
Aber nicht nur innerhalb des Kreises der Jubiläumsteilnehmer, sondern auch in den Medien, nämlich in den «Basler Nachrichten», wurde die Frage, wie die Basler Universität und «das Basler Gemeinwesen» zusammenhingen, besprochen. Zwischen dem 11. und 17. Juni 1910 veröffentlichte die Zeitung eine Abfolge von Artikeln, die später auch als Sonderdruck unter dem Titel «Die Basler Universität und das Basler Gemeinwesen» herausgegeben wurden. Auf 56 Seiten überrascht dieses Büchlein mit seiner detaillierten historischen Recherche zur Universitätsgeschichte.
Kleinheit der Verhältnisse
Ein weiteres Thema der Jubiläumsfeier war die Kleinheit der Verhältnisse. Kleinheit wurde idealisiert und von ihr wurde gesagt, sie gestatte, wirkliche Arbeitsgemeinschaft, «deren Glieder sich in lebendigem Austausch anregen und fordern», und sie erlaube den persönlichen Verkehr zwischen dem Lehrer und jedem einzelnen Schüler, während in anderen Universitäten «der berühmte Professor in unerreichbarer Höhe thront» (Eberhard Vischer). Der dreizehn Jahre zuvor verstorbene Jakob Burckhardt war im Geiste allgemein sehr zugegen. Etwa Regierungsrat Paul Speiser zitierte den grossen Historiker, der zuversichtlich von der Universität Basel gesagt hatte: «Sie ist noch zu Grossem berufen.» Und auch der Dekan der Theologischen Fakultät Conrad von Orelli zog den berühmten Gelehrten zuhilfe, um die Kleinheit der akademischen Verhältnisse in Basel zu rechtfertigen. Er erinnerte an die oft zitierte Bemerkung des mit einfachen Umständen zufriedenen Historikers, dass man auch in einer kleinen Küche gut kochen könne.
«Das ganze musikalische Basel»
Das «bescheidene» Jubiläum umfasste sämtliche Grundelement traditioneller Jubiläumsanlässe und fügte sogar ein weiteres hinzu: Am Vorabend gab es den Fackelumzug der Studenten, am eigentlichen Jubiläumstag folgten der morgendliche Festakt in der Aula, die Feier im Münster und das Bankett mit 800 Gedecken im Musiksaal. Nicht fehlen durfte ebenso ein en detail geplanter Festumzug. Bereits im Vorfeld war schriftlich festgelegt worden, welche Umzugsteilnehmenden sich wo aufzustellen hatten. Eine halbe Stunde vor Abmarsch hatten sich die Marschierenden an ihren Positionen einzufinden, bevor der Umzug um 10.30 Uhr startete. Die Studentenverbindungen sahen die Jubiläumsumzüge, zu denen sie in ihren Farben erschienen, in gewisser Weise als ihre eigenen Anlässe an, zu denen sie ihre Mitglieder jeweils förmlich mit eigenen Schreiben einluden. Aber auch die Basler Zünfte und Gesellschaften waren für den Umzug eingeplant. Beim Umzug von 1910 dürfte es sich also einerseits um einen Akt universitärer Selbsrepräsentation, aber auch um einen Anlass nicht-universitärer Angehöriger mit einem ensprechenden Publikum gehandelt haben.
Neu war, dass aus gegebenem Anlass eine Festkantate komponiert und aufgeführt wurde. Schon der Festakt war musikalisch umrahmt. Das akademische Orchester (das es offenbar gab) spielte zur Eröffnung Beethovens Marsch aus den «Ruinen von Athen» und zum Schluss den vom Dirigenten Ernst Markees komponierten Festmarsch. Die Münsterfeier schliesslich schloss mit der eigens zum Anlass geschaffenen Festkantate, gedichtet von Albert Gessler (Professor für deutsche Literatur), komponiert von Hans Huber und vorgetragen vom Basler Gesangverein, der Basler Liedertafel und der Elite des Gymnasiums. Diese Aufführung vereinigte, wie der Festbericht festhielt, «sozusagen das ganze musikalische Basel».
Im Rahmen der Münsterfeier wurden auch 17 Ehrendoktoren verliehen. Unter den Geehrten war der Rektor von der Mühll, der von seiner eigenen Fakultät den Docotor honoris causa bekam, sowie Rudolf Geigy-Merian, der, wie beim anschliessenden Bankett verkündet, der Universität einen stattlichen Geldbetrag stiftete (vgl. unten), sowie der Maler Ferdinand Hodler in Würdigung seiner Bedeutung «in dem Kampf um einen monumentalen Wandstil».
Materielle Gaben
Einen weiteren Hinweis darauf, dass auch ein «Zwischenjubiläum» den Zeitgenossen als vollwertiger Jubiläumsanlass erschien, lieferte die Tatsache, dass die Jubilarin nicht nur mit guten Worten bedacht, sondern auch mit irdischen Gütern reich beschenkt wurde. Die Freiwillige Akademische Gesellschaft (FAG) trug eine Summe von 330'000 Fr. für die Pensionskasse für die Witwen und Waisen von Lehrstuhlinhabern zusammen. Eine derartige sozialpolitische Novelle entsprach zeitgenössischen Erwartungen; 1912 wurde im Deutschen Reich ein Witwenrentengesetz geschaffen. Der Chemiefabrikant, alt Nationalrat und Handelsbankpräsident Rudolf Geigy-Merian schenkte der Universität 250'000 Franken an den Bau eines schon damals als überfällig erachteten Neubaus eines Kollegiengebäudes. Diese Gaben lägen, umgerechnet auf den heutigen Wert, im mehrfachen Millionenbereich.
Auch wurden über privates Mäzenatentum einige Stiftungsprofessuren errichtet: Die Mutter des verstorbenen Georg Kahlbaum, der ohne Besoldung Physikalische Chemie unterrichtet hatte, ermöglichte mit 100'000 Franken die Errichtung eines Lehrstuhles in dieser Disziplin; die «Bank von Basel» stellte den gleichen Betrag zur Besoldung einer zweiten Professur für Nationalökonomie zur Verfügung, und eine Gruppe Privater tat sich zusammen, um die Schaffung eines Lehrstuhls für Geographie zu ermöglichen.