Edgar Salin (1892–1974)
Edgar Salin wuchs in Frankfurt am Main auf und stammte aus einer jüdischen Fabrikanten- und Bankiersfamilie. Sein Studium schloss er in Heidelberg bei Alfred Weber, dem jüngeren Bruder Max Webers, mit einer Promotion ab. Salin vertrat ähnlich wie sein Doktorvater ein breites, integratives Verständnis der Nationalökonomie, das neben den wirtschaftswissenschaftlichen auch kultur- und sozialwissenschaftliche, wie auch philosophische Traditionen vereinte. Nicht zufällig befasste er sich in seiner 1920 abgeschlossenen Habilitationsschrift mit Platons utopischem Denken.
1924 erhielt Salin an der Universität Heidelberg eine Professur am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften. Schon während seiner Heidelberger Zeit setzte er sich für eine enge Verbindung von Nationalökonomie und Sozialwissenschaften - für eine breit verstandene «Politische Ökonomie» - ein. So betreute er beispielsweise das Promotionsprojekt eines jungen amerikanischen Studenten, Talcott Parsons, der auf Anregung von Salin über den Kapitalismusbegriff bei Marx, Sombart und (Max) Weber dissertierte und dessen spätere Karriere ihn zu einem der bedeutendsten amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts werden liess.
Auch in seiner Basler Zeit setzte sich Salin für ein breites, interdisziplinär offenes Verständnis der Ökonomie ein. Obwohl Salin klar qualitative Ansätze vertrat, widersetzte er sich nicht grundsätzlich dem Mathematisierungs- und Formalisierungstrend, der die Wirtschaftswissenschaften seit der Zwischenkriegszeit erfasst hatte. So arbeitete er eng mit Gottfried Bombach, der 1957 als mathematisch orientierter Nationalökonom nach Basel berufen wurde, zusammen. Was Salin widerstrebte, war die disziplinäre Abschottung in voneinander isolierte Teilfächer, die er auch in der zeitgenössischen Ökonomie andernorts beobachtete. Die Nationalökonomie musste seiner Ansicht nach auch die gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge, in denen wirtschaftliches Handeln eingebettet war, reflektieren.
In diesem Sinne war das wissenschaftliche Verständnis der Wirtschaft und des Wirtschaftens für Salin Teil einer holistischen sozialwissenschaftlichen Betrachtung. Als Plattform für dieses Anliegen gründete Salin 1947 die heute noch bestehende Zeitschrift «Kyklos. Internationale Zeitschrift für Sozialwissenschaften», in der jenseits mathematisierender Ansätze ein interdisziplinärer Diskurs über Grundfragen der Volkswirtschaftslehre gepflegt wurde.
Es versteht sich von selbst, dass Salin die enge Verbindung von Soziologie und Nationalökonomie, die an der Universität Basel seit den Berufungen von Julius Landmann und Robert Michels bestand, nachdrücklich unterstützte. Allerdings kritisierte er auch bei der Soziologie die Tendenz, sich zu stark als autonome Disziplin zu positionieren und dabei die interdisziplinären Bindungen zu anderen Fächern zu vernachlässigen. Entsprechend widersetzte sich Salin in Basel Bestrebungen, die Soziologie als eigenes Fach zu konstituieren. Der erste rein soziologische Lehrstuhl, den die Universität Basel 1960 auf Betreiben von Salin einrichtete, wurde deshalb nicht einem «Institut für Soziologie», sondern dem neuen «Institut für Sozialwissenschaften» angegliedert.
Auf seinem Basler Lehrstuhl profilierte sich Salin auch mit Äusserungen zu wirtschaftspolitischen Tagesfragen. Dabei exponierte er sich als scharfer Kritiker neoklassischer Ansätze, später insbesondere des Ordoliberalismus, der in der jungen Bundesrepublik dominierenden volkswirtschaftlichen Schule. Im Unterschied zu marktliberalen Ansätzen betonte Salin die Notwendigkeit weitgehender staatlicher Interventionen in die Wirtschaft. Entsprechend unterstützte er während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre den Ausbau der Gesamtarbeitsverträge, die Erweiterung des Arbeitsrechts und entwickelte selber ein staatliches Konjunkturprogramm, den sogenannten «Arbeitsrappen», das eine einprozentige Einkommensabgabe zur Finanzierung staatlicher Arbeitsbeschaffungsmassnahmen vorsah und das in Basel auch in die Praxis umgesetzt wurde.
Salin und der George-Kreis
Sein holistisches Verständnis der Wirtschaftswissenschaften verdankt sich einerseits der Verbundenheit Salins mit dem Erbe der Historischen Schule, andererseits seiner Mitgliedschaft im sogenannten George-Kreis, einem elitär-männerbündlerischen Literatenzirkel, den der Dichter Stefan George in Heidelberg seit den 1890er Jahren bis zu seinem Tod 1933 um sich scharte. Der Ästhetikbegriff dieses Kreises weist ähnlich holistische Züge auf wie Salins Wissenschaftsverständnis. Zwar blieb Salin nur bis in die frühen 1920er Jahre, also noch vor seiner Basler Zeit, dem George-Kreis verbunden und wendete sich danach wegen persönlicher Differenzen mit George und dessen wissenschaftskritischer Grundhaltung zunehmend vom Kreis ab. Trotzdem übte das ästhetisierende Milieu einen nachhaltigen Einfluss auf ihn aus. Salin war auch nicht der einzige Basler Ökonom mit Verbindungen zum George-Kreis. Schon Julius Landmann, der Vorgänger Salins auf dem Basler Lehrstuhl, gehörte zusammen mit seiner Frau Edith zum Umfeld Georges.
Der George-Kreis, dem übrigens mit dem Philosophen Herman Schmalenbach noch ein weiterer Basler Lehrstuhlinhaber angehörte, verweist beispielhaft auf die engen sozialen und kulturellen Verbindungen zwischen Basel und Heidelberg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieses regionale Netzwerk wurde noch verstärkt durch das Umfeld von Max Weber, dem ebenfalls einige nachmalige Basler Ordinarien, darunter etwa Robert Michels oder Karl Jaspers, angehörten.
Die Gründung der Friedrich-List Gesellschaft
Neben seiner akademischen Tätigkeit setzte sich Salin schon in den 1930er für eine stärkere Verschränkung zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung ein. Er war 1925 treibende Kraft bei der Gründung der «Friedrich List-Gesellschaft», die dem Andenken des liberalen Ökonomen Friedrich List (1789-1846) - einem Vordenker der Historischen Schule - gewidmet war. Die Gesellschaft organisierte einerseits eine Gesamtausgabe der Werke von List und veranstaltete andererseits eine Vielzahl von Tagungen und Konferenzen zu aktuellen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen, unter Mitwirkung von Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Die List-Gesellschaft liess auch zahlreiche wissenschaftliche Gutachten zu politischen Fragen erstellen. Die Gesellschaft, die in Deutschland stark verankert war, löste sich 1935, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, aus politischen Gründen auf, um sich 1954 als «List Gesellschaft» neu zu konstituieren und ihr ursprüngliches Programm wieder aufzunehmen.