«Die Frau muss selbstbewusster werden» - Edgar Salins erste Doktorandinnen
Zwischen 1927 und 1949 betreute Edgar Salin gut 100 Promovierende, unter ihnen zwölf Frauen. Abgesehen von der ersten und wohl prominentesten Doktorandin Salins, der späteren ZEIT-Herausgeberin Marion Dönhoff, lassen sich die Lebensgeschichten dieser Frauen nur fragmentarisch rekonstruieren. Trotzdem liefern die Ausschnitte dieser Biographien aussergewöhnliche und spannende Einblicke in die Geschichte des Frauenstudiums einerseits und in das breite Spektrum der Basler Nationalökonomie andererseits.
Die wenigen Frauen, die in den 1930er und 1940er Jahren ein Studium der Nationolökonomie aufnahmen, stammten meist aus bürgerlichen Familien, welche die erforderlichen Mittel für eine weiterführende Ausbildung aufbringen konnten und wollten. Salins Doktorandinnen waren Töchter von Professoren, Diplomaten, Ärzten, Anwälten oder Fabrikdirektoren. Zwar waren die Berufsaussichten von Ökonominnen etwas besser als für Absolventinnen anderer Fächer, etwa der Jurisprudenz. Trotzdem gelang der Berufseinstieg oft nur unter erschwerten Umständen; vielfach erhielten Ökonominnen Stellenangebote, für die eine weit tiefere Qualifikation erforderlich war. Auch die Aufstiegsmöglichkeiten blieben teilweise bescheiden oder wurden den Frauen mit Hinweis auf ihre eigentliche Bestimmung als Hausfrau und Mutter verwehrt. Insbesondere Frauen, die in eine «traditionelle» Männerdomäne vordrangen, wie etwa in die Politik oder in gesellschaftliche Machtpositionen, stiessen auf grossen Widerstand. In dieser Hinsicht sind die Lebensgeschichten der Doktorandinnen Salins keine Ausnahmen, und doch aussergewöhnlich: Margot Ruben etwa, die lange erfolglos um ihre Stellung und Anerkennung im elitären Männerbündnis der George-Anhänger kämpfte; oder Jahrzehnte später Liliane Brunner-Uchtenhagen, der als SP-Politikerin 1983 vom männerdominierten Parlament die Wahl in den Bundesrat verwehrt wurde - zugunsten Otto Stichs, der genau wie Brunner-Uchtenhagen in den 1950ern bei Salin promoviert hatte. Umgekehrt gelang es aber auch einer Reihe von Salins Doktorandinnen, einflussreiche Positionen zu besetzen; etwa Fanny Ginor, die ökonomische Beraterin für den Staat Israel und Dozentin an der Universität Tel Aviv wurde.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit - Ökonomie als «Wissenschaft vom Menschen»
Dennoch sind die Doktorandinnen Salins nicht nur aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte interessant, sondern in einer gewissen Weise repräsentativ für das breite Spektrum der Basler Nationalökonomie. Bei Salin, der die Ökonomie als interdisziplinär angelegte Sozialwissenschaft verstand, studierten sowohl «klassisch» interessierte Wirtschaftsstudenten, die Nationalökonomie als Teil eines staats- oder sozialwissenschaftlichen Studiengangs wählten, als auch solche, die Wirtschaft mit Philosophie, Literatur oder Geschichte kombinierten. Die Baslerin Alice Zimmermann zum Beispiel, die in den 1930er Jahren bei Salin studierte und später als Ökonomin im Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit tätig war, hatte ihre Dissertation bei Salin und dem Humanismusforscher Werner Kaegi verfasst. Die Arbeit setzte sich mit den Werken von Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller auseinander, wenn auch mit Hinblick auf eine staatswissenschaftliche Fragestellung. Ein Koreferrat von Werner Kaegi war nicht ungewöhnlich zu dieser Zeit; auch der Theologe Ernst Staehelin, der Philosoph und George-Anhänger Hermann Schmalenbach oder der Geschichtsprofessor Hermann Bächtold begutachten einige der Dissertationen unter Salin. Die Fächerkombinationen und die Auswahl der Koreferenten erstaunen nicht weiter, hat man Salins eigene Studien- und Interessensgebiete und sein humanistisches Verständnis der Ökonomie vor Augen - oder wie es eine Studentin in einem Brief an Salin formuliert: «Von Ihnen hörte ich zum ersten Mal, dass Volkswirtschaft eine Wissenschaft vom Menschen ist.» (UB Basel, NL 114, Fa 5905).
Fachliche Breite: Die Koreferenten Mangold, Ritschl und Wagner
Auch mit der Professur für Statistik, die seit 1921 mit dem ehemaligen Basler Regierungsrat Fritz Mangold besetzt war, bestand eine enge Zusammenarbeit. Gemeinsam mit Julius Landmann baute Mangold das Schweizerische Wirtschaftsarchiv auf, welches viele DoktorandInnen für wirtschaftsgeschichtliche Studien nutzten, etwa Ilse Schneiderfranken, die 1936 bei Salin und Mangold eine Strukturanalyse und Entwicklungsgeschichte der Tessiner Industrie vorlegte. Viele SchülerInnen Mangolds beschäftigten sich aber auch mit sozialpolitischen Fragestellungen, etwa Ruth Löwenstein, die 1931 bei ihm und Salin über die soziale Lage der Verkäuferinnen in der Schweiz promovierte.
Der zweite Lehrstuhl für Nationalökonomie war seit 1928 mit Hans Ritschl besetzt, der zusätzlich einen Lehrauftrag für Soziologie hatte. Ritschl war von derselben geistigen Tradition beeinflusst wie Salin, was sich etwa in seiner Dissertation über Arthur Spiethof - wie Salin ein wichtiger Vertreter der anschaulichen Theorie - zeigt. Im Gegensatz zu Salin wandte sich Ritschl aber zunehmend der theoretischen Ökonomie zu; und ebenfalls anders als Salin stand Ritschl sozialistischen Ideen nahe. So erstaunt es wenig, dass etwa die Promotion der Kommunistin und späteren DDR-Politikerin Margarete Wittkowski von Ritschl mitbegutachtet wurde. 1942 trat Valentin Fritz Wagner die Nachfolge von Hans Ritschl an, der einen Ruf an die nationalsozialistische «Reichsuniversität Strassburg» angenommen hatte. Wagner hatte bei Julius Landmann promoviert und folgte ihm später als Assistent nach Kiel. Wie Salin legte Wagner seinen Fokus verstärkt auf wirtschafts- und sozialpolitische Fragestellungen, was sich auch in den Arbeiten seiner DoktorandInnen spiegelt. Unter Wagners Mitbetreuung entstand etwa die Dissertation von Edmund Wyss, dem späteren Basler Regierungs- und Nationalrat; er setzte sich in seiner Doktorarbeit mit der Sozialpolitik des konservativen Basler Bürgertums des 19. Jahrhunderts auseinander.
«Die Frau muss selbstbewusster werden»
Wagner begutachtete auch die Dissertation der Baslerin Adelheid Bächtold, die eine Studie über die Arbeitsbedingungen der Krankenpflegerinnen in der Schweiz verfasste. Die knapp 100-seitige Arbeit dokumentiert die diskriminierenden Arbeitsbedingungen eines «typischen» Frauenberufs und plädiert für eine bessere Regelung der Arbeitsverhältnisse: «Höchstleistungen (...) sind ohne materielle und soziale Sicherheiten unerreichbar.» Die Aufforderung Salins an seine StudentInnen, aus sozioökonomischen Problemstellungen auch politische Konsequenzen abzuleiten, fand Widerhall: Frieda Busch, Tochter des Musikprofessors Hugo Grüters, schreibt in einem Brief an Salin über ihre Dissertation, in der sie Tributzahlungen Frankreichs nach dem Krieg 1870/71 untersuchte: «Ich wüsste nicht, wie ich diese Arbeit unpolitisch machen könnte?» (UB Basel, NL 114, Fa 1397) Die Thematisierung des Spannungsfeldes Frau-Gesellschaft-Wissenschaft taucht zwar selten, aber pointiert in den schriftlichen Zeugnissen der Doktorandinnen auf. Die Voten enden aber oft mit der Beschwichtigung, dass die Arbeitssituation für Frauen und ihre Stellung in der Gesellschaft inzwischen merklich besser geworden seien. Viele gesellschaftskonforme Frauenbilder werden von den Doktorandinnen selber übernommen und reproduziert. So beginnt die Arbeit von Adelheid Bächtold mit der Feststellung: «Zum Beruf der Krankenpflegerin ist die Frau schon durch ihre natürlichen Anlagen prädestiniert.» Während diese Einleitung zur Entstehungszeit der Dissertation - Ende der 1940er Jahren - kaum Anstoss erregt haben wird, tat es wohl eher die Schlussfolgerung Bächtolds: «Mit der Erfüllung materieller Verpflichtungen ist das soziale Problem der Schwestern nicht gelöst.» Und Alice Zimmermann forderte 1952 an der Jahresversammlung des Schweizerischen Verbandes der Berufs- und Geschäftsfrauen: «Die Frau muss selbstbewusster werden.»