Die «Freunde der Universität»
Im November 1929 erging ein von Rektor Erwin Ruck unterzeichneter und etwa 30 Mitunterzeichnern unterstützter Aufruf, man möge es als «Ehrensache» verstehen, Mitglied der Vereinigung «Freunde der Universität» zu werden. Ihr Zweck sei es, die Beziehungen zwischen Universität und Bürgerschaft zu vertiefen, in gegenseitigem Austausch zwischen beiden das geistige Leben zu pflegen «und den Sinn für geistige Werte und geistigen Lebensinhalt in immer weitere Kreise zu tragen». Als Mittel zu diesem Zweck waren Abende mit «freier Aussprache» vorgesehen.
Am 21. Januar 1930 fand ein erster solcher Abend im Münstersaal der Bischofshofs statt. Auf Wunsch von Rektor Ruck hielt der 76jährige Indogermanist Jacob Wackernagel, der 1912/13 selbst mal Rektor gewesen war und noch bis 1936 (seinem 83. Lebensjahr) offiziell unterrichtete, einen langen Vortrag zum Thema «Stadt und Universität Basel». Wer teilnahm, entzieht sich unseren Kenntnissen, die Berichterstattung der Tagespresse sprach von «dicht gedrängter Zuhörerschaft». Die angestrebte Aussprache beschränkte sich auf drei Wortmeldungen: Zunächst meldete sich der Rektor, Hermann Bächtold, vor allem um zu danken; dann meldete sich der Kuratelspräsident und Ständeratspräsident E. Thalmann, der sicher ebenfalls dankte, aber auch bemerkte, dass die Überzeugung von der Bedeutung der Universität «bis weit in die Arbeiterschaft» hineinreiche. Schliesslich sprach sich Dr. Strub für eine «enge Lebensverbindung» zwischen den Studierenden und den berufstätigen Akademikern aus. (National-Zeitung und Basler Nachrichten vom 22. Januar 1930).
Der Vortragstext wurde als Heft 1 einer eigenen Reihe im Basler Universitätsverlag Helbing & Lichtenhahn veröffentlicht. Wackernagel rühmte sowohl die klassischen Ausbildungsleistungen als auch die ausserordentliche Präsenz der Universität in der Stadt. Mit letzterem meinte er das, was die Vereinigung zu unternehmen sich gerade wieder anschickte und was die FAG schon 1835 initiiert hatte. Heute habe man Mühe, dieses über die Universität «Hinausgreifen» - das going public, wie man heute sagen würde - in seiner Bedeutung und Innovation zu begreifen. «Bei der Flut von Vorträgen, mit der wir heute überschwemmt sind, erregt es fast ein Lächeln, dass damals offenbar solches Hinaustragen wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine weitere Öffentlichkeit nur in geschlossenen Vereinigungen üblich war, dagegen allgemein zugängliche Vorträge gar nicht vorkamen.» Die in der Alten Aula durchgeführten Dienstagsabende gingen auf diese Anregung zurück. Die besten Lehrer hätten sich dieser Aufgabe angenommen, Jacob Burckhardt zum Beispiel habe jahrelang in einer so anspruchslosen Vereinigung wie dem Verein junger Kaufleute Geschichtsvorträge gehalten. Die neue Vereinigung wollte diese alte Tradition wiederbeleben und als geistig-politische Institution an die Seite der «finanziell eingestellten» FAG treten.
Wackernagel würdigte natürlich auch die 1919 gegründete Volkshochschule. Diese ziele nicht auf «Halbbildung«, sondern habe zwei wichtige Funktionen: erstens die Achtung vor der wissenschaftlichen Arbeit beim nichtakademischen Publikum einzupflanzen und zweitens denjenigen, welche einförmige und «geisttötende Arbeit» verrichten, die Gelegenheit zu geben, «sich wenigstens für Augenblicke in eine andere Welt zu versetzen und den Staub von der Seele wegzuwaschen».
Wackernagel, Sohn eines vormals deutschen Germanisten, selbst in Deutschland ausgebildet und 1902-1915 Ordinarius in Göttingen, stellte mehrfach Vergleiche zwischen den baslerischen und deutschen Universitätsverhältnissen an, um aufzuzeigen, wieviel prekärer die Situation der Stadtuniversität ohne Hinterland sei. Er spekulierte, wie es wäre, wenn Solothurn oder der Aargau dem reichen Basel unter die Arme greifen würde und dabei auch «in unsere Universität hineinregieren wollte». Baselland sprach er jedoch nicht an, und seine Schlussfolgerung ging dahin, dass sich die Universität, wenn man von den Ausländern absieht, wegen ihrer Beschränkung umso mehr auf seine eigene Bevölkerung - die Studierenden und die «Volksgenossen» - konzentrieren müsse.
An einem zweiten Besprechungsabend referierte Rudolf Löw zum Thema «Künstler und Universität». Im November des gleichen Jahres, 1930, stieg ein weiterer Vortrag, gehalten von Andreas Speiser zu Ehren Keplers, dessen 300. Geburtstag begangen wurde. Kurz darauf lud die Vereinigung zu einem öffentlichen Besprechungsabend zum längst geplanten und überfälligen Neubau des Kollegiengebäudes ein. Rektor Ruck setzte sich (mit einem Schreiben vom 11. Dezember 1930) im Namen der Vereinigung bei der Regierung für den Neubau am Petersplatz ein. Im folgenden Jahr stellte sich Regierungsrat und Erziehungsdirektor Fritz Hauser im Februar zur Verfügung und sprach über die Allgemeinbildung der Akademiker, und es folgte ein weiterer Vortag zum Thema «Kultur und Technik».
Die Schriftenreihe gedieh alles in allem auf 10 Hefte: 1932 kamen in einem Bändchen drei Reden über Goethe von Andreas Heusler, Gustav Senn und Karl Spiro heraus, 1934 ein Heft von Ernst Staehelin über die Theologische Fakultät und eins von Gustav Senn über die naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophisch-Historischen Fakultät, 1936 ein Heft von Alfred Labhardt über die medizinische Fakultät, 1940 eins von Erwin Ruck über die Juristische Fakultät. Damit trat ein Pause ein. Im Vorjahr war die Vereinigung noch prominent an den Feierlichkeiten zur Einweihung des Kollegiengebäudes beteiligt: Wiederum Erwin Ruck überreichte am Vorabend des grossen Tages als Geschenk der «Freunde» eine Rektoratskette, die Rektor Ernst Staehelin am folgenden Tag im Umzug tragen konnte.
Wann die Aktivitäten der «Freunde» völlig einschliefen, ist unklar. Nach 14jähriger Pause kamen 1954 nochmals zwei Schriften heraus: Texte des Germanisten Walter Muschg über Dichtertypen und des Historikers Werner Kaegi über humanistische Kontinuität im konfessionellen Zeitalter. Nach weiteren fünf Jahren, 1959, erschien eine Schrift von Rudolf Nissen über den menschlichen Organismus, und das letzte Heft von 1961 wurde von Leo Schrade verfasst und galt dem Beitrag von Heinrich Schütz in der protestantischen Liturgie.
Den doch etwas sonderbar anmutenden Aufbruch, aus dem die Initiative von 1929 und die folgenden Aktivitäten hervorgingen, kann man nur verstehen, wenn man mit Hilfe eines früheren Schreibens des Initianten Erwin Ruck die allgemeine Stossrichtung des Unternehmens erfasst. Rektor Ruck berief sich auf jahrelange Erfahrung und auf Einblicke, die er bei der Führung des Rektorats gewonnen hatte. Diese liessen in ihm die Überzeugung reifen, «dass der überlieferte Zusammenhang zwischen Bürgerschaft und Universität weithin gelockert, zum Teil sogar verloren gegangen ist, dass hauptsächlich die für die Weiterentwicklung massgebende Schicht im Alter von etwa 25-40 Jahren vielfach der Universität, der Wissenschaft und der geistigen Kultur überhaupt ohne tieferes Interesse gegenüber steht».
Es ging zugleich um mehr: Die Vereinigung wollte mit ihrem Vitalisierungsprogramm «tiefere Einsicht in die geistigen Strömungen und damit ein geistiges Gesamtbild unserer Zeit» vermitteln. Es wollte der «weitgehenden geistigen Zersplitterung und Verflachung» und der «Ungeistigkeit in der Art der Lebenshaltung» entgegenwirken (Einladung des Rektors vom 21. Juni 1929). Im gedruckten Aufruf zum Beitritt vom November 1929 sind die Formulierungen noch etwas markanter (vgl. auch Aufruf im Baslerstab Nr. 264 vom 13. November 1929 und gleichentags in den Basler Nachrichten Nr. 311). Hier wird geklagt über «die Gefahr der geistigen Verflachung und Verödung für weitere Kreise» und ist von «Niedergang des geistigen Lebens» und von «geistigem Abstieg» die Rede.
Die Gründungssitzung fand am 28. Juni 1929 im Regenzzimmer des unteren Kollegiums am Rheinsprung statt. Nach einem Jahr konnte Ruck bekannt geben, dass gegen 400 Mitgliedschaften gewonnen werden konnten, auch aus der Studentenschaft, jedoch die Namen vieler Dozenten fehlten. Interessant ist die Absage Albert Oeris, des Chefredaktors der «Basler Nachrichten«, vom 29. Juni 1929: Er hielt sich ausserstande, etwas für die Universität zu tun, nachdem sich die Universität geweigert hatte, seinen Bundeshausredaktor Karl Weber, der schon 1919 über das Zeitungswesen in Baselland publiziert und später einen Lehrauftrag und den Professorentitel von der Universität Zürich erhalten hatte, zu habilitieren. Die Bitte um finanzielle Unterstützung war auch nicht sehr erfolgreich. Rudolf Sarasin-Vischer teilte dem Rektor am 16. November 1929 mit, Handelsbank und Bankverein hätten je nur 500 Franken zur Verfügung gestellt, mit der Begründung, «dass sie mit der Universität keine direkten Beziehungen hätten». Sarasins Kommentar: «Ein Kommentar erübrigt sich wohl.» Es ist durchaus denkbar, dass die Angefragten eher der FAG etwas geben wollten. Die FAG ihrerseits hatte aber in ihrer Festschrift von 1935 nur anerkennende Worte für das 1929 entstandene Komplementärgebilde.
Die Basler Kommunisten liessen die bürgerliche Dekadenzklage nicht unkommentiert. Dr. Franz Welti, 1923 erster Präsident der KPS, hielt in einem Schreiben an die Initianten fest, nicht geistige Veräusserlichung und Materialismus seien für die Verödung verantwortlich, es sei vielmehr eine «typische Folgeerscheinung der kapitalistischen Entwicklung im Zeitalter des Imperialismus und des Monopols des Finanzkapitals». Und «Vorwärts«-Redaktor Dr. Fritz Wieser doppelte in einem weiteren Scheiben nach: «Ich sehe die Ursache für den von Ihnen beklagten und ja auch unbestreitbaren geistigen Niedergang in ganz anderen Faktoren und halte dementsprechend auf der Grundlage meiner kommunistischen Überlegungen auch andere Mittel für notwendig, um eine Änderung herbeizuführen.».
Ohne die hinter dieser Einschätzung stehende Dogmatik zu übernehmen, kann man festhalten, dass die Vorbehalte nicht unangebracht waren: Die angestrebte Mobilisierung von Geistigkeit war viel politischer, als sie sich eingestand. Sie stand im Dienste einer bürgerlichen Politik, welche die sozialen Gegensätze, die sie selbst mitproduzierte, mit Bildungspflege überdecken wollte. Vor allem der Materialismusvorwurf war insofern problematisch, als er von einer Seite kam, die beste materielle Voraussetzungen hatte und sich auf dieser Basis dem Geistigen zuwandte - daher die verständliche Skepsis oder naheliegende Ablehnung der bürgerlichen Reparaturstrategien.