«Lieux de mémoire» der Basler Universitätsgeschichte

Der von Pierre Nora geprägte Begriff der «lieux de mémoire» eignet sich, um die Bedeutung und Funktion von Geschichten, Motiven und Elementen, die bei Jubiläumsfeiern einer bestimmten Institution immer wieder aufgenommen werden, zu untersuchen. So ist etwa die feierliche Amtsübernahme des ersten Rektors der Universität Basel im Münster ein solcher «Erinnerungsort», der zum festen Bestandteil der Universitätsgeschichte geworden ist.  

Ein Konzept zur Entschlüsselung der Bedeutung von Altbekanntem 
«Lieux de mémoire» («Erinnerungsorte») sind gemäss dem französischen Historiker Pierre Nora (*1931) sowohl Bestandteil der Geschichte als auch des Gedächtnisses der Gegenwart. Erinnerungsorte sind die exponierten Punkte, in denen sich die Wahrnehmung der gemeinsamen Geschichte für die Mitglieder einer Grossgruppe oder einer Institution verdichtet. Dabei meint Nora mit dem französischen Begriff «lieux» weitaus mehr als bloss geografische «Orte», nämlich auch Räume, Ereignisse, Personen, Begriffe, bekannte Ikonen wie eben das Bild der Amtsübernahme und anderes mehr. Konkrete und abstrakte Gegenstände können Erinnerungsorte sein. Erinnerungsorte sind stets mit historischen Bezügen belegt, allgemein bekannt und gemeinschaftskonstituierend.

Der Begriff «lieux de mémoire» lässt sich nicht nur für gemeinschaftsbildende Momente von Nationen, wie Nora dies in seinem Werk tut, sondern auch für Institutionen wie die Universität - und damit für die Wissenschafts- und Universitätsgeschichte - anwenden. Gerade zu Jubiläumsfeierlichkeiten werden Erinnerungsorte immer wieder von Neuem belebt oder auch neu geschaffen: indem etwa altbekannte Anekdoten der Universitätsgründung erzählt werden oder einzelne Motive der Universitätsgeschichte besonders hervorgehoben und zelebriert werden.

Noras Konzept ist in den letzten Jahren weiterentwickelt und auch kritisch beleuchtet worden. Kritisiert wurde etwa, dass Nora zu wenig danach frage, wer eigentlich festlege, was als «Erinnerungsort» gilt: Gibt es für verschiedene Gruppen der Gesellschaft nicht auch ganz unterschiedliche «Erinnerungsorte»? Einige Kritiker bemängeln des Weiteren, dass sich Nora zu wenig der Frage annehme, wie die Gesamtarchitektur der von ihm beschriebenen «Erinnerungsorte» aussehe.

Nichtsdestoweniger hat die Debatte um das Konzept der «Erinnerungsorte» - in deren Kontext auch terminologische Varianten wie etwa der «Topos» oder die «Meistererzählung» diskutiert wurden - den Blick auf die Beschaffenheit von «Orten», an denen Erinnerung entworfen, festgemacht und stereotypisiert wird, und auf die entsprechenden Akteure geschärft.

Bilder, Personen und Orte als «Erinnerungsorte» der Basler Universitätsgeschichte
Ein Motiv der Basler Universitätsgeschichte, das bei Jubiläen bis heute immer wieder in den Vordergrund tritt, ist dasjenige des Amtsantritts des ersten Universitätsrektors, Georg von Andlau. Im ältesten Matrikelbändchen der Universität von 1460 findet sich eine Federzeichnung dieser Szene: Der Fürstbischof Johann von Venningen ernennt den ersten Rektor der Hohen Schule. Dieses von einem unbekannten Künster entworfene Bild wurde in der Folgezeit zu einem immer wieder rezipierten Bildarrangement. 1910 wurde eine Jubiläumspostkarte mit dem Matrikelbild gedruckt und mit dem Begriff  «Inthronisation des ersten Rectors» unterschrieben. Bezeichnenderweise wurde die Illustration auch zum Modell für Bilder, die für die Universitätsjubiläen 1960 und 2010 angefertigt wurden.

Auf dem zum grossen Fest von 1960 hergestellten Jubiläumsposter beginnt die Bildergeschichte, die den Verlauf der 500 Jahre der Universität Basel illustriert, mit einer Darstellung, die der Postkarte von 1910 zum Verwechseln ähnlich sieht. Derselbe Bildausschnitt zeigt dieselben Personen, Gegenstände und Handlungen. Und noch einmal 50 Jahre später spricht der zum Universitätsjubiläum veröffentlichte Comic eine analoge Bildsprache: Das gezeichnete Titelbild zeigt, wiederum nur leicht abgeändert, Georg von Andlau zur Rechten des Bischofs kniend. Auch die Stiftungsurkunde und der universitären Repräsentationsgegenstand, das Szepter, haben weiterhin ihren festen Platz. Die Geschichte des «Inthronisations»-Motives zeigt, wie sich die Vorstellung darüber, wie der Anfang der Universität Basel zu denken sei, mit der Zeit in einem spezifischen Bildarrangement verfestigte. Die Bildkomposition selbst ist zu einem «Erinnerungsort» geworden.

Aber auch der erste Rektor, in gleicher Weise wie andere als zentral erachtete Akteure der Basler Universitätsgeschichte, wurde im Verlauf des Wiedererzählens zu einem «Erinnerungsort». Eine Basler Universitätsgeschichte ohne die Namen Erasmus von Rotterdam oder Bernoulli wäre, um nur zwei Beispiele zu nennen, nicht denkbar. Ebenso findet der allgemeine Topos der Bürgerverbundenheit – ein gerne wiedererzähltes Motiv in der Basler Universitätsgeschichte – seine Konkretisierung als «Erinnerungsort»: in der Geschichte der Rettungsaktion der 1830er-Jahre durch die Schaffung der «Freiwilligen Akademischen Gesellschaft».

Dennoch bedeuten diese offensichtlichen Wiederholungen in der Narration der Universitätsgeschichte nicht, dass sich zwangsläufig für alle Mitglieder der Universität an den genannten Punkten «Erinnerungsorte» herauskristallisieren. Möglicherweise ist die Amtsübernahme durch Georg von Andlau für Angehörige, die selbst einmal ein universitäres Amt innehatten, wichtiger als für Angehörige, die lediglich einige Semester an der Basler Universität studierten. Andererseits könnte es sein, dass für Professorinnen die Einführung des Frauenstudiums in Basel ein gegenwärtigerer «Erinnerungsort» ist als die bedeutenden Männer der Geschichte der Universität Basel.

Nicht im Münster, sondern in Liestal: Akzentverschiebungen
Schliesslich können auch Ereignisse Erinnerungsorte sein. Die Jubiläumsfeiern der vergangenen Jahrhunderte wurden jeweils im Münster gefeiert. Hier wurde der «genius loci» beschworen. Jedes neuerliche Jubilieren erinnerte dabei nicht nur an die Universitätsgründung, sondern auch an die vorangegangenen Jubiläumsfeiern. Sosehr sich jedes Jubiläum, bewusst oder unbewusst, auf bereits tradierte Topoi der institutionellen Geschichte bezieht, sosehr können Jubiläen auch neue Akzente der Geschichtserzählung und der Jubiläumstradition setzen. Dass die Eröffnungsfeier des 550-Jahr-Jubiläums in Liestal stattfindet, ist eine solche Akzentverschiebung.