Auf dem Weg zum eigenen Fach
Im 20. Jahrhundert erlangte die Psychologie innerhalb der philosophischen Lehre und Forschung zunehmende Bedeutung. Weiterhin blieben es aber die Philosophen, die - als philosophische Subdisziplin - das Fach Psychologie vertraten. Über eigentliche und das heisst: eigene Fachvertreter verfügt die Basler Psychologie dagegen erst seit Mitte der 1940er Jahre. Bis aus den Extraordinariaten ordentliche Professuren wurden, sollten noch weitere zwei Jahrzehnte vergehen.
Schulwesen fordert Seelenlehre
Die fortschreitende Stärkung der Psychologie war kein Ergebnis inneruniversitärer Erwägungen. Sie folgte einer Anregung der Basler Lehrerschaft, die 1916 nach dem Freiwerden des zweiten, von privaten Stiftungen getragenen Lehrstuhls die Einrichtung eines neuen gesetzlichen Lehrstuhls forderte. Das Anliegen stand im Zusammenhang mit einer Revision des Schulgesetzes, das die ordentliche Professur an den Auftrag knüpfen wollte, die angehenden Lehrer in den Gesetzen des Seelenlebens und den daraus ableitbaren Erziehungsgrundsätzen zu unterrichten.
Nach manchen Beratungen und dem Einholen zahlreicher Gutachten zeigten sich die Philosophische Fakultät und die Kuratel bereit, den Bedürfnissen des Schulwesens zu entsprechen. Dies allerdings nur insoweit, als den Zwecken der Wissenschaft unangefochtene Priorität eingeräumt würde. Denn für die praktischen Belange des lokalen Erziehungswesens wollte sich die Universität nicht zu verbindlich einspannen lassen.
Der Entwicklung der Basler Psychologie konnte das nur förderlich sein, bedeutete es doch den Vorrang der Seelenkunde vor der Erziehungslehre. Diese Rangfolge schien auch in der vorgesehenen Widmung der Professur auf. In seinem «Entwurf zu einem Ratschlag betr. Errichtung eines zweiten Lehrstuhls für Philosophie an der Universität» legte das Erziehungsdepartement dem Basler Regierungsrat eine Professur für «Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie und Pädagogik» nahe.
Beschlossen wurde durch den Grossen Rat allerdings ein Lehrstuhl für «Pädagogik und allgemeine philosophische Disziplinen», womit die Psychologie zunächst wieder ins Hintertreffen zu geraten drohte. Die am 22. August 1917 in Kraft getretene Änderung des Universitätsgesetzes sah eine sofortige Errichtung des Lehrstuhls vor. Die sofortige Errichtung ging allerdings nicht mit einer sofortigen Besetzung einher. Nach längeren Auseinandersetzungen zwischen den beauftragten Institutionen in Universität und Stadtpolitik trat 1920 Otto Braun, zuvor Professor in Münster, als erster Ordinarius die Stelle an.
Letztlich ist alles Psychologie - die Philosophen Häberlin und Jaspers
Als Braun nach zwei Amtsjahren unerwartet starb, hielt mit dem aus Bern kommenden Paul Häberlin für den zweiten Philosophielehrstuhl eine Phase der Kontinuität Einzug. Für die psychologische Ausrichtung brachte dies eine allmähliche Konsolidierung mit sich. Denn die Philosophische Fakultät hatte Häberlin insbesondere wegen seiner psychologischen Kompetenzen berufen. In einer empfehlenden Stellungnahme vom 6. Mai 1922 orientierte der Dekan den Basler Erziehungsrat über Häberlins Profil: «Sowohl geisteswissenschaftlich wie naturwissenschaftlich vorgebildet, ergänzt er als spezieller Psychologe den hiesigen philosophischen Lehrbetrieb in erwünschter und gerade nach den modernen Methoden der Pädagogik fruchtbarer Weise. In einer ganzen Reihe vielbeachteter Schriften, die ihn in beständiger Weiterentwicklung zeigen, legt er die Prinzipien der empirischen Psychologie dar, gibt er der praktischen Pädagogik zugleich philosophische Grundlagen und erhebt er die Philosophie zu einer wahren Erziehung des Geistes.»
Dass es Häberlin mit dem psychologischen Schwerpunkt ernst war, zeigt schon seine Basler Antrittsrede vom 13. November 1922. Sie stand unter dem Titel «Der Beruf der Psychologie» und behandelte damit das Gebiet, mit dem er sich zu dieser Zeit am eingehendsten beschäftigte. Die Rede erschien im folgenden Jahr in gedruckter Form und war Teil einer raschen psychologischen Publikationstätigkeit. Im selben Jahr 1923 erschien das Buch «Der Leib und die Seele», das Häberlin bereits als Berner Professor fertiggestellt hatte. Ein Jahr später lag seine Elementarpsychologie «Der Geist und die Triebe» vor und 1925 konnte die Schrift «Der Charakter» veröffentlicht werden. Die Psychologie in Lehre und Forschung weiterzuentwickeln blieb Häberlins Anliegen bis zu seiner Emeritierung 1944 und darüber hinaus. Die Bedeutung der Psychologie für ein grundlegendes Verständnis des Menschen markiert Häberlin gerade auch in solchen Schriften, in denen man der Psychologie zunächst eine untergeordnete Rolle zugewiesen hätte. Im 1948 erschienenen Aufsatz «Die Eigenart der biologischen Wissenschaft» streicht Häberlin heraus, dass für den Menschen eine «Bio-logie» in ihrem vollen Sinne nur eine psychologische Biologie sein könne, verstanden nämlich «als Psychologie der Aussenpolitik der Seele». Ebenfalls im Jahr seiner Emeritierung verfasste Häberlin ein ungedrucktes Manuskript zu «Wesen und Aufgabe der Psychologie», in der er sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Psychologie, ihrer Stellung innerhalb der Wissenschaften und dem Verhältnis von Leib und Seele auseinandersetzte.
Bei der Suche nach einem geeigneten Nachfolger für den inzwischen 70-jährigen Philosophen und Psychologen Häberlin stand für die Basler Universität und Regierung bald fest, dass man den damals schon 65-jährigen Karl Jaspers berufen wollte. Im Briefwechsel zwischen dem städtischen Erziehungsdepartement und dem Heidelberger Philosophen und Psychiater zeigte sich Basel in Fragen des Gehalts und der Rente entgegenkommend. Wo es aber um die Ausrichtung des Lehrstuhls ging, waren die Vorgaben nicht beliebig verhandelbar: Neben den allgemeinen philosophischen Disziplinen sollte ein Schwerpunkt auf der Psychologie liegen. Man einigte sich deshalb auf den Titel «Professur mit Lehrauftrag für Philosophie einschliesslich Psychologie und Soziologie».
Einer solchen Lehraufgabe schien Jaspers deshalb besonders gewachsen, weil er seinen Weg zur Philosophie über die Psychologie gefunden hatte. Von Haus aus promovierter Mediziner, habilitierte er sich 1913 in Heidelberg mit seinem Lehrbuch «Allgmeine Psychopathologie» im Fach Psychologie, für das er drei Jahre später zum Extraordinarius befördert wurde. Die psychologische Methode blieb auch für seine eigentlich philosophische Arbeit bestimmend. Wegweisend für sein ganzes wissenschaftliches Leben war seine «Psychologie der Weltanschauungen», die er 1919 als Psychologieprofessor publiziert hatte. Noch 1950, seit zwei Jahren Philosophieprofessor in Basel, betonte Jaspers in einem nie versandten Brief an Heidegger die Bedeutung des in diesem Werk verfolgten Ansatzes: «Materialiter handelt es sich, wenn ich meine Arbeit verstehe, immer noch um das gleiche, das in der «Psychologie der Weltanschauungen» zum ersten Mal ohne alle Übung im Handwerk des Philosophen sich mitteilte.»
Jaspers war geleitet von einem Satz des Aristoteles, den wohl auch Häberlin unterschrieben hätte: «Die Seele ist gleichsam alles.» Für Jaspers gab es in der Welt des Menschen kaum etwas, was in diesem weiteren Sinne nicht eine psychologische Seite hatte.
Dennoch blieb das im engeren Sinn philosophische Handwerk auf den beiden philosophischen Lehrstühlen stets das beherrschende. Selbst den psychologischsten Vertretern der Balser Philosophie, Häberlin und Jaspers, galt die Psychologie in erster Linie als ein - freilich unverzichtbares - Hilfsbesteck. Die Philosophen sollten es an die Hand nehmen, um der Philosophie zu dienen - nicht um die Psychologie zur ersten der Wissenschaften zu machen.