Im Zeichen des Wachstums - die Psychologie als Fakultät

Am 1. April 2003 wurde die Fakultät für Psychologie als siebte Fakultät der Universität Basel gegründet. Im folgenden Herbstsemester überstieg die Zahl der Neuimmatrikulationen erstmals die Grenze von 200 und lag damit um einen Drittel höher als im Vorjahr. Mit dem Andrang der Studierenden verband sich ein intensiver Ausbau. Heute verfügt die Fakultät über neun Abteilungen, denen jeweils eine hauptamtliche Professur vorsteht.

Der Auftakt zur Erweiterung der Basler Psychologie liegt an der Schwelle zur Fakultätsgründung. Mit der Berufung von Michaela Wänke als Professorin für Sozial- und Wirtschaftspsychologie konnte zu Beginn des Sommersemesters 2002 ein viertes Ordinariat eingerichtet werden. Kaum ein Jahr später und wenige Wochen vor den Gründungsfeierlichkeiten der neuen Fakultät wurde Silvia Schneider eine Förderprofessur des Schweizerischen Nationalfonds bewilligt. Die beiden neuen Professorinnen bilden die ersten Bausteine für eine Umgestaltung des Fachs zur Fakultät.

Neue Abteilungen, neue Stellen, neue Menschen
Auch in den folgenden Jahren ist der Beizug neuer personeller Ressourcen eines der prägendsten Merkmale der heranwachsenden Institution. Noch im Herbst 2003 wurde Silvia Schneider zur Assistenzprofessorin der Abteilung für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie ernannt, der sie seit 2006 als Ordinaria vorsteht. Ebenfalls zu Beginn des Wintersemesters 2003 nahm mit Ralph Hertwig ein weiterer Assistenzprofessor seine Tätigkeit auf. Zunächst mit dem Schwerpunkt Angewandte Kognitionswissenschaften betraut, wurde Hertwig 2005 zum Ordinarius und Leiter der Abteilung für Cognitive and Decision Sciences gewählt.

Im selben Jahr wurde die Abteilung für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie gegründet, deren Leitung Alexander Grob als neuem Ordinarius übertragen wurde. Auf den ersten Januar 2006 konnte im Zusammenhang mit dem Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) sesam die Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitspsychologie eingerichtet werden, der seitdem Roselind Lieb als Extraordinaria vorsteht.

Nationaler Forschungsschwerpunkt sesam
Parallel zum Extraordinariat übernahm Lieb die Funktion als Geschäftsführerin des NFS sesam (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health – Schweizerische ätiologische Studie zu Entwicklung und seelischer Gesundheit). Dieses langfristig angelegte Projekt unter der Leitung des Basler Psychologieprofessors Jürgen Margraf wurde im März 2005 vom Schweizerischen Nationalfonds bewilligt und für die ersten vier Jahre mit 18.4 Millionen Franken ausgestattet.

Als Hauptgegenstand der Studie war die Beobachtung der psychosozialen Gesundheit von rund 3000 Kindern von der 20. Schwangerschaftswoche bis zu ihrem 20. Altersjahr vorgesehen. Um Einsicht in die komplexen Ursachen einer gesunden psychischen Entwicklung zu gewinnen, hätten psychologische, soziale und biologisch-genetische Faktoren berücksichtigt und mittels Verhaltensbeobachtung, Fragebogen, Interviews und biologischer Untersuchungen erfasst werden sollen. Sechs individuelle Teilstudien sollten Unterstichproben der Kernstudie für zusätzliche Fragestellungen verwenden und acht weitere Teilstudien auf der Grundlage eigener Stichproben betrieben werden.

Im März 2008, zwei Jahre nach Beginn des Programms, musste die Projektleitung von sesam den Abbruch der Kernstudie bekannt geben, da sich für die Stichprobe von 3000 Kindern in den anvisierten Räumen Basel, Zürich, Bern und Lausanne nicht genügend werdende Ersteltern finden liessen. Die im Sommer desselben Jahres vom Schweizerischen Nationalfonds eingesetzte Arbeitsgruppe «Lessons learned» deckte drei weitere «Problemknoten» auf, die zum Scheitern der Studie geführt hätten: Die nicht ausreichend abgeklärten rechtlichen Rahmenbedingungen, die ungenügend geregelten Zuständigkeiten und Begutachtungsverfahren der beteiligten Ethikkommissionen sowie die Reaktionen des politischen und medialen Umfelds.

Die wissenschaftliche Qualität des Forschungsprojekts hingegen stand den Evaluationsergebnissen zufolge ausser Frage. In einer Zusatzbemerkung hält der Bericht der SNF-Arbeitsgruppe dazu fest: «Der NFS SESAM wurde auf der Stufe Gesuch und während zweier Site visits auf der Stufe Realisierung durch zwei voneinander unabhängige Panels internationaler Experten begutachtet und qualitativ als ausgezeichnet bewertet. Deshalb wird hier der Qualitätsaspekt nicht weiter thematisiert.» Was fehlte – dies die Hauptempfehlung der Arbeitsgruppe im Hinblick auf alle zukünftigen Programme grösseren Umfangs oder kontroversen Inhalts – war eine eingehende «Machbarkeitsabklärung». Nicht nur die wissenschaftliche Möglichkeit, sondern auch die rechtliche und ethische Umsetzbarkeit hätte im Vorfeld geprüft werden müssen, um allfällige Problemknoten noch vor dem Förderungsentscheid zu erkennen.

Mit Beschluss vom 19. Januar 2009 genehmigte das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) den Ende 2008 vom Schweizerischen Nationalfonds eingereichten Antrag auf Einstellung des NFS sesam. Nach einer gut einjährigen Auslaufphase wird der Forschungsverbund zum 30. September 2010 aufgelöst. Die acht von der Kernstudie unabhängig konzipierten Teilstudien und die für die Kernstudie betriebenen Vorstudien werden bis dahin publikationsreife Ergebnisse liefern. Bestand haben wird auch die integrierte bio-behaviorale Infrastruktur, die im Rahmen von sesam an der Birmannsgasse 8 aufgebaut wurde und Forschungsarbeiten auf technisch und sicherheitsrechtlich hohem Niveau ermöglicht. 

Ungewohnte Wege für gewohnte Fragen
Die Einrichtungen des NFS sesam und die in rascher Folge hinzugekommenen Abteilungen brachten nicht nur eine Erweiterung, sondern in mancher Hinsicht auch eine Neuausrichtung der Basler Psychologie. Besonders deutlich wird dies an der im April 2007 eingerichteten Abteilung für Molekulare Psychologie, die sich wesentlich auf naturwissenschaftliche Forschungsmethoden stützt. Die enge Verknüpfung mit der naturwissenschaftlichen Fakultät zeigt sich bereits daran, dass Abteilungsleiter Andreas Papassotiropoulos zugleich die Leitung der Life Sciences Training Facility am Biozentrum übernommen hat. Dieser Schwerpunkt weist nicht nur innerhalb der Basler Psychologie in eine bisher nicht beschrittene Richtung; es handelt sich vielmehr um den ersten Lehrstuhl auf dem Gebiet der Molekularen Psychologie im gesamten deutschsprachigen Raum. Zentrale Ziele der neuen Abteilung sind die Erforschung der molekularen Grundlagen des menschlichen Gedächtnisses und die Anwendung dieser Erkenntnisse für die Entwicklung von Therapien für Gedächtnisstörungen.

Dennoch hat sich die Psychologie nicht zu einer neuen Wissenschaft gewandelt. Der Erkenntnisgegenstand ist im Wesentlichen derselbe geblieben. Noch immer interessiert der erlebende und handelnde Mensch, der auch im Zentrum von Hans Künzlis Wissenschaftsverständnis stand. Was sich geändert hat, ist die Art der Untersuchung. Neben dem phänomenologisch-beschreibenden und hermeneutisch-verstehenden Ansatz, der sich auf Beobachtung und Dialog stützt, haben sich kognitions- und neuorwissenschaftliche Methoden entwickelt. Mit ihnen wird versucht, die dem beobachtbaren Verhalten zugrunde liegenden Prozesse der Informationsverarbeitung über verschiedene Ebenen hinweg vom Verhalten bis zum Molekül zu erklären und nachzuvollziehen. Zu den auf diese Weise untersuchten Bereichen gehören das Erkennen von Mustern und Farben, einfache Lern- und Gedächtnisleistungen oder die Planung von Handlungsfolgen.

Aber auch als klassisch psychologisch angesehene Fragestellungen wie Emotion und Motivation, psychische Gesundheit und Krankheit oder die Entwicklung der Persönlichkeit werden in einer Arbeitsweise angegangen, die theoretische Aussagen mit empirisch-experimentellen Methoden aus dem Feld der Naturwissenschaften verbindet. Für diese Verknüpfung wurde der Begriff der «Translational Research» geprägt – ein Forschungsanliegen der Life Sciences, das an der jungen Fakultät insbesondere im Bereich «Molekulare Grundlagen der psychischen Gesundheit und menschlichen Entwicklung» verfolgt wird.

Von den Naturwissenschaften wurde nicht nur die Methodik übernommen, sondern auch der unverwechselbare Gestus von Aufbruch und Fortschritt. Als vielversprechend gilt, worüber bisher nicht viel gesprochen wurde, was ungewohnt und deshalb der Profilierung dienlich ist. So heisst es in der Fakultätsevaluation vom August 2008 über die Ausrichtung der hinzugekommenen Abteilungen: «Dabei wurden ausgetretene Pfade vermieden und es wurde jeweils Neuland beschritten.» Die emphatische Artikulation des Neuen dürfte nicht nur wissenschaftsimmanente Gründe haben. Die Präsentation nach aussen ist im Zusammenhang der Einwerbung von Drittmitteln bedeutender geworden. Dass die Strategie, Neues zu fordern, indem Neues versprochen wird, für die Psychologie Früchte getragen hat, zeigt ein Blick auf die Statistiken. Der Anteil an eingeworbenen Drittmitteln stieg in den ersten vier Jahren der Psychologischen Fakultät (2003-2006) von 100'000 auf 4.6 Millionen Franken.

Grenzen des Wachstums?
Nicht nur die Forschungsgelder stiegen an, sondern auch die Studierendenzahlen nahmen jährlich zu. Der Anstieg an Psychologiestudierenden übertrifft die übrigen schweizerischen Universitäten und steht auch der Entwicklung in den Nachbarländern voran. Aus den Jahresberichten der Psychologischen Fakultät wird deutlich, dass die für 2010 vorgesehene Zielgrösse von 800-850 Studierenden bereits im Jahr 2006 erreicht wurde. Da die Zahl der Studienanfänger allerdings nach wie vor die Zahl der Abgänger übersteigt, ist von einem weiteren Wachstum auszugehen. In den letzten Jahren hat dies wiederholt zu Engpässen in der Lehre geführt.

Das Problem einer übermässigen Lehrbelastung hat die Fakultät von Beginn weg begleitet und wurde von Klaus Opwis schon in der «Ansprache zur Gründung der Fakultät für Psychologie an der Universität Basel» am 26. Mai 2003 thematisiert: «Die grossen Studierendenzahlen in der Psychologie bedeuten erhebliche finanzielle Einnahmen für die Universität. Die Psychologie ist wirtschaftlich betrachtet eine Erfolgsgeschichte der Universität. Wir hoffen, dass dies so bleibt, aber wir möchten selbstverständlich auch, dass dieser Erfolg verstärkt dort sichtbar wird, wo die Leistungen dafür erbracht werden - also in der Ausbildung der Studierenden der Psychologie.»

Dieser Wunsch ging bisher nicht in Erfüllung. Es erstaunt deshalb wenig, dass die Jahresberichte seit 2003 mit der zumeist gleichlautenden Klausel über die Herausforderungen des studentischen Zustroms schliessen: «Die Zahl der Studierenden nimmt weiterhin zu; die damit einhergehenden Belastungen sind unvermindert nur mit dem engagierten und grossen Einsatz der Mitarbeiter/innen zu bewältigen.» 

Waren die Belastungen zunächst noch Ausgangspunkt einer Würdigung des Personals, schlug der Bericht zum Jahr 2007 erstmals einen anderen und deutlicheren Ton an: «Die Erfolge in der Forschung [...] wurden trotz einer anhaltenden massiven Überlast in der Lehre erreicht. Diese Überlast bleibt auch im Jahr 2007 das Hauptproblem im Bereich der Lehre. Das Betreuungsverhältnis von 119 Studierenden auf eine hauptamtliche Professur ist nach wie vor völlig inakzeptabel.»

Die bereits erwähnte «Evalution der Fakultät für Psychologie der Universität Basel» drückt ihren Unmut im abschliessenden Kapitel über Stärken, Schwächen und Entwicklungsperspektiven in ähnlichen Worten aus: «Seit nunmehr einem Jahrzehnt liegt die Zahl der Studierenden pro hauptamtlicher Professur bei über 100. Gemäss Vorgabe der CRUS liegt das angestrebte Betreuungsverhältnis bei 1:40 (Professuren:Studierende).» Mit den derzeitigen Ressourcen sei es nicht mehr möglich, zentrale Elemente des Bachelor- und Masterstudiums in ausreichender Quantität zu erbringen. Zudem bedrohe eine andauernde Überlastsituation auch die Qualität der Forschung und beeinträchtige die Qualifikation des wissenschaftlichen Personals.

Die Professorenschaft wurde zumindest teilweise von administrativen Aufgaben befreit, nachdem in der Verwaltung neue Stellen hinzukamen. Zu nennen ist hier in erster Linie das im Oktober 2006 eingerichtete Amt des Geschäftsführers, das seither Jean-Jacques Jobin inne hat. Bei anhaltend steigenden Studierendenzahlen wird man sich dennoch bald mit der Entscheidung zwischen einem beschränkten Zulauf und einem Ausbau der Lehrkapazitäten konfrontiert sehen.