Erklärungen eines Theologen vor den Weltkriegen 1914 und 1939
Der Theologe Ernst Staehelin prägte in besonderer Weise die Geschicke der Universität Basel. Zwei Mal hatte er das Amt des Rektors inne und in beide Amtszeiten fielen wichtige Anlässe: 1939 die Eröffnung des neuen Kollegiengebäudes - 1960 die Feier des 500. Jubiläums. Seine Rede anlässlich der Eröffnung des Kollegiengebäude im Sommer 1939 stand ganz im Zeichen der geistigen Landesverteidigung. Schon während des Ersten Weltkriegs hatte Staehelin mahnende Gedanken publiziert.
Was Ernst Staehelin (Jg. 1889, 1916 mit 27 Jahren Privatdozent, acht Jahre später, 1924, ausserordentlicher Professor und 1927 Ordinarius für Neuere Kirchengeschichte) im November 1914 publizierte, war zunächst für die Zofinger Studenten gedacht, es wurde dann aber im Basler Reputationsverlag Helbing & Lichtenhahn als selbstständiges Schriftchen mit dem Titel «Die Bedeutung des gegenwärtigen Zeitpunkts für unsere Schweiz» veröffentlicht und einer Gebirgs-Sanitäts-Kompagnie gewidmet, mit welcher der Verfasser als Gefreiter Dienst leistete. Staehelin deutete den grossen Krieg wie viele andere als ein grosses Ringen von welthistorischer Bedeutung, den «männermordenden Krieg» als Katastrophe, jedoch mit einer zwangsläufigen Wende zu einem Neuanfang der Welt. Ihm ging es vor allem darum, wie die Neutralität der Schweiz aufzufassen sei und welche Stellung diese in der neuen Welt einnehmen soll. Die Sorge, dass die Schweiz wegen ihrer Neutralität «aus dem Strom der Geschichte» ausgeschieden werde und einem «langsamen Absterben preisgegeben werde», hielt er nicht für unbegründet. Aber es hänge von der Einstellung eines jeden Schweizers ab. «Lassen wir die gegenwärtige Zeit gewaltiger Völkererlebnisse, diese Zeit, wo rings um uns herum Geschichte geschaffen wird, vorbeigehen, ohne sie auf uns wirken zu lassen, ohne eine innere Läuterung und göttliche Neugeburt zu erfahren, dann sprechen wir uns damit selbst das Todesurteil. Dann haben wir keine Möglichkeit mehr, weiter zu leben, weil wir uns selbst die Aufnahme neuer Lebenskraft versagen, einer Lebenskraft, die größer und edler ist, als die den andern Völkern zunächst zugeführte, einer Lebenskraft, die uns daher aber auch nicht aufgezwungen werden kann, wie jenen die Sühne, sondern die aufzunehmen oder abzuweisen unserer Freiheit überlassen bleibt.» In den Schlusspassagen beschwört er die Leser/innen, die Geschichte ernst zu nehmen, die Bedeutung des gegenwärtigen Zeitpunktes nicht zu verkennen und alles daran zu setzen, daß sie das werde, was sie sein soll: «Eine gewaltige Neubildung des Völkerlebens ist im Gange. Wollen wir daran teil gewinnen, so kann es unserer Bestimmung gemäß in keiner andern Weise geschehen, als durch eine Neuerhebung zu Gott empor; dann erleben wir die Geschichte als uns läuternd und schaffen sie zugleich als andere läuternd, und bleiben so in ihrem heilsamen Strome. Sind wir dagegen nicht imstande, die Zeit auszukaufen, bleiben wir in den Niederungen des gegenwärtigen Zustandes hangen, verschließen wir uns dem neuen Leben, das rings um uns erwacht, dann bereiten wir uns selbst den Tod und haben im Völkerganzen nichts mehr zu bedeuten; und die Geschichte wird ihre Konsequenzen ziehen und über unsere Schweiz hinweg zur Tagesordnung schreiten.»
1939 – Der Dienst der Wissenschaft als Kriegsdienst
1939 war Ernst Staehelin ein erstes Mal Rektor, 1960 sollte er es beim grossen Jubiläum ein zweites Mal sein. 1939 war in der Universitätsgeschichte ein besonderes Jahr, weil im Juni 1939 das neue Kollegiengebäude eingeweiht wurde. Es zeugte vom speziellen Geist der Zeit, was der ehemalige Gefreite von 1914, am 9. Juni 1939, wenige Wochen vor dem nicht überraschenden Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, im Hof des Kunstmuseums bei Fackellicht anlässlich der Übergabe einer neuen Fahne an die Studentenschaft über Dienstpflicht und Kriegszüge ausführte. Auch der Dienst der Wissenschaft sei ein Kriegsdienst, und dieser fordere nicht minder den letzten Einsatz.
«Allerdings ist es ein Kriegsdienst anderer Art. Es ist nicht ein Kriegsdienst auf der Ebene der politisch-militärischen Wirklichkeit und nicht ein Kriegsdienst, der mit den Mitteln der Gewalt ausgeführt wird, sondern es ist ein Kriegsdienst, der sich auf der Ebene des Geistes vollzieht und mit den Mitteln des Geistes vollbracht wird. Und es besteht noch ein anderer Unterschied. Die Fahnen, die die Basler Bataillone erhielten, sollen diese zum Schutze der Heimat führen, aber nicht zu irgend einer Eroberung. Die Fahne aber, die ich heute der Studentenschaft der Universität Basel übergeben darf, soll ein Feldzeichen der Eroberung sein. Und zwar soll der Kriegsdienst eines jeden akademischen Bürgers auf drei Eroberungen ausgerichtet sein.
Die erste Eroberung, um die es geht, soll die Eroberung des Universums sein, wie es in Zeit und Raum vor uns hegt. Schon die Stiftungsbulle vom Jahre 1459 spricht von den «arcana mundi», von den Geheimnissen der Welt, die der Wissenschaft zu erschließen aufgetragen seien. Und für alle Zeiten gehört es zum Wesen eines rechten Studierenden, mit brennender Leidenschaft immer neu in den Ungeheuern Reichtum des Kosmos vorzustürmen und immer tiefere und umfassendere Eroberungen zu machen.
Aber mit dieser Eroberung ist es nicht getan. Die bloße Kenntnis der Dinge in Zeit und Raum ist, auch wenn sie noch so umfassend ist, letztlich eine hohle und oberflächliche Sache, wenn sie nicht eingebaut ist in die Erkenntnis der Dinge, die jenseits von Zeit und Raum liegen. Und so ruft die Universitätsfahne die Studierenden auch auf, in die Geheimnisse der Überwelt vorzustoßen, mit kühnem Geiste immer neu zu ringen um die Durchdringung und Erfassung der ewigen Hintergründe, in denen die räumlich-zeitliche Welt und die sichtbare und greifbare Menschheitsgeschichte drinsteht. Es ist ein ungeheures Vorrecht der akademischen Jugend, daß sie sich, während ihre Altersgenossen schon im schweren und oft unbefriedigenden Existenzkampf drinstehen, mit den letzten und höchsten Problemen befassen darf. Aber wehe ihr, wenn sie dieses Vorrecht nicht ausnützt und in niedrigem und oberflächlichem Treiben ihre großen Möglichkeiten verscherzt!
Doch auch mit dieser Eroberung der Hintergründe der Welt ist es noch nicht getan. Man kann alle Geheimnisse der Welt und der Überwelt erforscht haben, und es kann doch eine leere Sache sein, wenn es bloß ein intellektualistisches Spielen und Tändeln bleibt. Es muß noch eine dritte Eroberung gemacht werden, die Eroberung des eigenen Selbst. Das eigene Selbst muß fest hineingegründet werden in die ewigen Ordnungen, die der Geist erkennend erobert; der akademische Bürger muß in dem unheimlichen Gewoge der Menschengeschichte drinstehen als einer, der eine letzte Haltung hat und darum auch für andere Halt und Stütze bedeutet. Wie anders sieht es oft in der Wirklichkeit aus; wie viele, die voll kühner Hoffnungen ihr Studium begonnen haben, stranden im Laufe der Jahre oder enden in einem dürftigen Philisterium ! Das kommt daher, daß sie nicht mit leidenschaftlicher Hingabe auf die Eroberung des eigenen Selbst bedacht sind, daß sie nicht das Ebenbild Gottes, das sie in sich tragen, in die ewigen Hintergründe der Welt hineinheben lassen.
So übergebe ich denn der Basler Studentenschaft die neue Universitätsfahne in der Hoffnung, daß sie sie heute und bis in die fernsten Zeiten hinein führe zur Eroberung der Geheimnisse der Welt, zur Eroberung der Geheimnisse der Überwelt und zum Sieg über das eigene Selbst.»