Die Geschichte Osteuropas an der Universität Basel

Das Studium der osteuropäischen Geschichte und Kulturen in Basel ist mit all seinen Höhen und Tiefen eng mit der Geschichte des Historischen und des Slavischen Seminars verknüpft.

 

Der Bezug zur Geschichte spielte in den slavistischen Lehrveranstaltungen von Anfang an eine wichtige Rolle.
Institutionell eingebunden wurde die Osteuropäische Geschichte, als der in Basel promovierte und habilitierte Literaturwissenschaftler und Historiker Rudolf Bächtold als Lehrbeauftragter und später Extraordinarius seit 1953 regelmässig Überblicksvorlesungen und Übungen zu verschiedenen historischen Bereichen in Osteuropa anbot.
1968 wurde die Osteuropäische Geschichte Prüfungsfach. Bestrebungen, ein vollamtliches Extraordinariat für Osteuropäische Geschichte einzurichten, versandeten 1974. Mit der Emeritierung Prof. Bächtolds 1983 endete vorerst die Vertretung des Fachgebietes. 

Seitens des Historischen wie des Slavischen Seminars wurde jedoch darauf gedrängt, wieder eine entsprechende Stelle einzurichten. Möglich war zunächst seit 1986 ein zweistündiger Lehrauftrag. Das Historische Seminar gab einem Extraordinariat für Osteuropäische Geschichte in seinem 1988 verabschiedeten „Leitbild für die Geschichtswissenschaft an der Universität Basel“ höchste Priorität.
Die dramatischen Veränderungen in Osteuropa, wie sie sich zu dieser Zeit in der Perestrojka und im Zerfall des sowjetischen Herrschaftsbereiches ausdrückten, trugen dazu bei, dass der Basler Regierungsrat der Besetzung eines solchen Extraordinariates zum 1. April 1991 zustimmte.

Als Professor für Osteuropäische und Neuere Allgemeine Geschichte wurde Heiko Haumann berufen, der 1971 in Marburg über die Anfänge der sowjetischen Planwirtschaft promoviert und sich 1977 in Freiburg i. Br. über „Kapitalismus im zaristischen Staat“ habilitiert hatte. Er wurde Anfang 1997 zum Ordinarius ernannt.
Die in die Bibliothek des Historischen Seminars integrierten Bestände zu Osteuropa haben sich seitdem nicht nur zu einer angemessenen Handbibliothek für die Lehre entwickelt, sondern geniessen einen guten Ruf vor allem für die Spezialgebiete in der Forschung, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben. Wichtig war dabei in erster Linie die Absprache bei Buchkäufen mit der Basler Universitätsbibliothek, die ohnehin wegen der reichen Bestände, die Fritz Lieb zur russischen Literatur und Geistesgeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert erworben und dann der UB übergeben hatte, eine zentrale Anlaufstelle für Osteuropa-Historikerinnen und -Historiker ist. Darüber hinaus hat sich für Forschung und Lehre die Kooperation mit der Schweizerischen Osteuropabibliothek – ein Bestandteil der Stadt- und Universitätsbiliothek Bern – als wertvoll erwiesen. Schliesslich hat die Förderung durch die Berta Hess-Cohn-Stiftung dazu beigetragen, dass Basler Bestände zur Geschichte Osteuropas – und dabei namentlich zur Geschichte der Juden in Osteuropa – einen qualitativ hohen Standard erreicht haben. Ebenso befinden sich wertvolle Nachlässe in den Sammlungen der Institute und Bibliotheken.

Dies weist auf das besondere Profil der Osteuropäischen Geschichte in Basel hin.
Das Fach wird in seiner ganzen Breite vertreten. Aufgrund der Forschungsinteressen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich Schwerpunkte in diesem Grossraum ergeben: auf die Geschichte Russlands, Polens und Ungarns in der Neuzeit, darüber hinaus die Geschichte der Juden in Osteuropa. Inzwischen ist dies ausgeweitet worden auf die Geschichte der Roma, der Nomaden und anderer transnationaler Kulturen.
Besondere Projekte stellen Erinnerungsvorgänge und den Umgang mit Geschichte in den Mittelpunkt. Schliesslich bringt es die Ausrichtung des Lehrstuhls mit sich, dass immer wieder Vergleiche mit westeuropäischen Gegebenheiten gezogen und Wechselbeziehungen untersucht werden. Einen hohen Stellenwert nehmen die Beziehungen zwischen der Schweiz und Osteuropa sowie die Regionalgeschichte Basels und des oberrheinischen Gebietes ein. Geleitet wird die Arbeit von einer lebensweltlichen, akteurszentrierten Orientierung, die sich in die am Historischen Seminar vertretenen Ansätze einer kulturwissenschaftlich und sozialgeschichtlich fundierten Historischen Anthropologie eingliedert.
Dieses Profil der Osteuropäischen Geschichte in Basel – zusammen mit dem Slavischen Seminar, dem Institut für Jüdische Studien und mit den weiteren Kooperationen – ist in der Schweiz wie im gesamten deutschsprachigen Raum, vielleicht sogar darüber hinaus einmalig.

Abgesehen von Einzelpublikationen wird das Profil des Lehrstuhls auch in verschiedenen, international angesehenen Reihen deutlich: „Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien“ (hg. von Heiko Haumann, Peter Lang Verlag, bisher 14 Titel); „Lebenswelten osteuropäischer Juden“ (hg. von Heiko Haumann, Böhlau Verlag, bisher 10 Titel); „Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas“ (hg. von Andreas Guski, Heiko Haumann und Ulrich Schmid, ab 2009 auch von Thomas Grob, bisher 15 Titel).

In besonderer Weise ist der Lehrstuhl für Osteuropäische und Neuere Allgemeine Geschichte mit dem Institut für Jüdische Studien verbunden. Heiko Haumann war von 1998 bis 2001 zusammen mit Ekkehard Stegemann interimistischer Direktor und sitzt bis heute im Stiftungsrat. Durch die Querverbindungen, in die sich das Institut für Iberoromanistik mit seinen Forschungen zum sefardischen Judentum eingliedert, ist das Institut eine Stütze des Bachelor-Studiengangs „Osteuropastudien“ und des Master-Studienfachs „Osteuropäische Geschichte“. Umgekehrt fliessen die Lehrveranstaltungen zur Geschichte und Kultur der Juden, die im Rahmen des Lehrstuhls angeboten werden, in das Studienfach „Jüdische Studien“ ein. In der Forschung sind feste Absprachen vereinbart. Der Schwerpunkt zur Geschichte der Juden in Osteuropa bildet einen integralen Bestandteil des Instituts für Jüdische Studien.

Die intensiven inneruniversitären Kooperationen haben es erleichtert, 2004 im Rahmen der „Bologna-Reform“ den erwähnten Studiengang „Osteuropastudien“ zu konzipieren, der wachsende Resonanz unter den Studierenden geniesst und breite Grundkompetenzen vermittelt. Neben den beiden Teilbereichen Osteuropäische Geschichte und Slavische Kulturwissenschaften können in einem dritten Bereich wahlweise Kenntnisse und Fähigkeiten in weiteren Disziplinen erworben werden. Zu den Partnern gehören das Institut für Jüdische Studien, das Europainstitut, das Wirtschaftswissenschaftliche Zentrum, das Institut für Soziologie, das Kunsthistorische Seminar, das Musikwissenschaftliche Institut, das Seminar für Kulturwissenschaft/Europäische Ethnologie und das Sprachenzentrum der Universität.

Innerhalb der Schweiz hat es von Anfang an eine Absprache mit dem früher eingerichteten Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich gegeben. Während in der Lehre das Fach an beiden Universitäten in voller Breite unterrichtet werden sollte, war und ist vorgesehen, in der Forschung Schwerpunkte zu bilden: in Zürich in der älteren Geschichte Russlands sowie in der Geschichte Südosteuropas, in Basel in der neueren Geschichte Russlands sowie in der Geschichte Polens, Ungarns und der jüdischen Bevölkerung Osteuropas.
Darüber hinaus besteht eine Zusammenarbeit mit dem Historischen Institut Bern (Schwerpunkt Kommunismus- und Stalinismus-Forschung) und mit der Schweizerischen Osteuropabibliothek in Bern. In der Regio veranstaltet der Basler Lehrstuhl gemeinsam mit dem benachbarten Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Freiburg i. Br. regelmässig „Studientage“; ebenso werden Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gemeinsam betreut.

Neben nachhaltigen Kontakten zu verschiedenen deutschen Lehrstühlen für Osteuropäische Geschichte und zu Einrichtungen, die sich mit der Geschichte und Kultur der Juden beschäftigen (z. B. Simon Dubnow-Institut in Leipzig, Salomon Steinheim-Institut in Duisburg, Moses Mendelssohn-Zentrum in Potsdam), haben sich gute Verbindungen zu zahlreichen ausländischen Instituten herausgebildet, vor allem in Novosibirsk, Moskau und St. Petersburg, in Lemberg und Warschau, in Graz, Wien, Budapest und Szeged, in Bratislava, Belgrad und Prag. Enge Partnerschaften bestehen zum Historischen Institut der Universität Krakau und zum Kulturwissenschaftlichen Zentrum der Universität Tscheljabinsk, die zu einem Austausch von Studierenden und Dozierenden, Exkursionen, Tagungen und Forschungsprojekten führen.
Mit Tscheljabinsk wird darüber hinaus ein regelmässiges Virtuelles Seminar veranstaltet, in dem Studierende und Dozierende gemeinsam Texte diskutieren; diesem Seminar haben sich inzwischen weitere Institute angeschlossen.

Der Basler Lehrstuhl war und ist bestrebt, wissenschaftliche Ergebnisse einer interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln (und umgekehrt von dort Anregungen zu erhalten).
So haben sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wieder an Diskussionsveranstaltungen beteiligt, sich für schulische Projekte zur Verfügung gestellt, Beiträge für Medien geliefert, Kurse an der Volkshochschule durchgeführt, Stellungnahmen für staatliche und nichtstaatliche Organisationen verfasst sowie Publikationen für ein breiteres Publikum herausgegeben. Regelmässig werden sie als Experten angefragt. Gemeinsam mit der Integrationsstelle des Kantons Basel-Stadt wurde im Wintersemester 2004/05 ein Seminar zur Geschichte und Kultur der Roma in Osteuropa und in der Schweiz veranstaltet.
Als Schnittstelle zwischen den Basler Osteuropawissenschaften und der Öffentlichkeit wurde 2005 ein Freundes- und Förderkreis Osteuropa gegründet. Ende 2008 hat er rund 180 Mitglieder. Er führt Vorträge und Podiumsdiskussionen, Filmreihen und Ausstellungen durch; in zunehmendem Masse fördert er auch Lehrveranstaltungen. Ebenso unterstützt die Stiftung für Sozialgeschichte Osteuropas die Tätigkeit des Lehrstuhls. Derzeit finanziert sie die halbe Stelle einer Wissenschaftlichen Mitarbeiterin. Ihre Aufgabe besteht darin, die Netzwerke in der Schweiz lebender revolutionärer Emigranten und Emigrantinnen aus Osteuropa zu erforschen sowie Veranstaltungen zu den Jubiläen des sozialistischen Basler Friedenskongresses von 1912 und der linkssozialistischen Konferenzen von Zimmerwald und Kiental 1915/16 vorzubereiten.
Eine Stiftung zur Förderung der ungarischen Geschichte, Kultur und Sprache befindet sich in der Gründungsphase; sie wird Mittel zur Verfügung stellen, die zur Verstetigung des derzeitigen Lehrangebotes beitragen können.

Grosser Wert wird auf die Nachwuchsförderung gelegt.
Im Rahmen des Lehrstuhls wie des Netzwerkes der Osteuropawissenschaften in der Schweiz wurden mehrere Graduiertenkurse veranstaltet. Ebenso konnten hohe Mittel für Forschungsprojekte zugunsten von Doktorierenden und Habilitierenden eingeworben werden. Aus dem Basler Lehrstuhl hervorgegangene wissenschaftliche Arbeiten erhielten wiederholt in- und ausländische Preise. Bis Ende 2008 führte Heiko Haumann rund  250 Lizentiatsprüfungen durch und betreute als Erstgutachter über 100 Lizentiatsarbeiten und 38 abgeschlossene Doktorarbeiten; derzeit laufen 19 Promotionsvorhaben. Drei Habilitationsvorhaben wurden bisher erfolgreich abgeschlossen (drei bis vier werden voraussichtlich bis zur Emeritierung 2010 hinzukommen). Von den betreuten Abschlussarbeiten beschäftigen sich rund 70 % mit dem osteuropäischen Raum, die übrigen beziehen sich auf die Schweiz, Deutschland sowie eine Anzahl weiterer Länder. Mit einem Anteil von 35 % stehen Arbeiten zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion im Vordergrund, gefolgt von Polen mit 15 % und dem Habsburger Reich (meist Ungarn) mit 10 %. Unabhängig von der geographischen Zuordnung liegen mit 30 % der Arbeiten Themen der jüdischen Geschichte und Kultur an erster Stelle. Zeitlich herrschen Darstellungen zum 19. und 20. Jahrhundert vor. Die Arbeiten spiegeln die kulturwissenschaftliche Ausrichtung des Lehrstuhls wider. Überwiegend gehen die Autorinnen und Autoren von Ansätzen der Historischen Anthropologie (lebensweltliche und akteurszentrierte Orientierung, Alltagsgeschichte) sowie von Identitäts- und Erinnerungstheorien aus. Schwerpunkte bilden Untersuchungen zur Regionalgeschichte und zu transnationalen Kulturen und Gesellschaften.

2001 wurde die "Basler Initiative für Gender Studies in der Osteuropaforschung" (BIG-O) von Assistierenden und Promovierenden am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte zusammen mit Prof. Heiko Haumann ins Leben gerufen. Ziel war der Aufbau eines wissenschaftlichen Netzwerkes im Bereich osteuropäische Frauen- und Geschlechterforschung. Es wurden dazu verschiedene Tagungen und Workshops durchgeführt. Weitere Veranstaltungen sind geplant.

Am Jahrestreffen der Schweizer Osteuropa-Institute in Basel im Juni 2002 entstand die Idee zur Gründung des „Forums Ostmittel- und Südosteuropa“ (FOSE). Ziel dieses Forums ist es, NachwuchswissenschaftlerInnen aus den Forschungsbereichen Ostmittel- und Südosteuropa in der Schweiz stärker zu vernetzen und den wissenschaftlichen Austausch zu fördern. Das Forum trifft sich seit April 2003 zweimal im Jahr zu intensiven Arbeitstagungen. Das FOSE organisiert regelmässig Veranstaltungen zu aktuellen Forschungsthemen.

Ein ausserordentliches Ereignis stellte 2004 die nachdrückliche Beteiligung am erfolgreichen Kampf um die Erhaltung der Slavistik dar.
Besondere Resonanz fanden mehrere Ausstellungen – namentlich 1997 die international beachtete zum Ersten Zionistenkongress von 1897 in Basel – sowie verschiedene Exkursionen innerhalb der Schweiz, nach Krakau, nach Moskau und nach Berlin, 2009 dann eine grosse Fahrt, die nach Krakau, Lemberg, Moskau und Kazan führte.