Zur Geschichte des Historischen Seminars an der Universität Basel
Der gedankliche Raum der Geschichts- schreibung ist von der «Jetztzeit» erfüllt, so formulierte Walter Benjamin 1940 eine Voraussetzung historischen Denkens. Das galt auch 1659, als an der Universität Basel der erste Lehrstuhl für Geschichte eingerichtet wurde.
Dieser erste Lehrstuhl hatte die Aufgabe, der am «politischen Stand» interessierten Jugend ein praxisorientiertes «Studium Historicum et Politicum» zu bieten. Seine Einrichtung war Ausdruck des neuen Bildungsideals des «volllkommenen Hofmannes», der als Militär- und Civilbeamter gleichermassen verwendbar sein sollte, und zielte vor allem auf adelige und patrizische Studenten, die «nicht eben auf einigen Grad sehen, sondern in den politischen Stand trachten».
Ein Lehrstuhl wird zum Historischen Seminar
Dieser erste Lehrstuhl sollte für lange Zeit vereinzelt bleiben. Versuche der Erweiterung um einen zweiten, auf Schweizer Geschichte ausgerichteten Lehrstuhl schlugen in den folgenden Jahrhunderten wiederholt fehl. Unbemerkt aber blieb der erste und einzige Lehrstuhl für Geschichte nicht: 1861 wurde er von Jakob Burckhardt übernommen und zu internationaler Berühmtheit gebracht. Und Burckhardts Interesse am verzahnten Wirken von Staat, Religion und Kultur liess nicht den Gegenwartsbezug historischen Denkens, wohl aber die staatspolitische Vorbildsammlung endgültig hinter sich: Nun ging es um eine geistes- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Universalgeschichte.
Als schliesslich 1915 ein zweiter Lehrstuhl eingerichtet wurde, war der erste bereits zur Institution geworden. 1887 hatte die Universität das Historische Seminar gegründet und damit – wie für den deutschsprachigen Raum üblich – zunächst eine Lehrform gemeint: ein gemeinsamer Arbeitszusammenhang von Professoren und Studierenden, die dabei das eigenständige Quellenstudium erlernen sollten. Bald schon kamen feste Räumlichkeiten hinzu und das «Seminar» bezeichnete nunmehr zugleich Prozess und Ort solcher Einheit von Forschung und Lehre.
Von der Universalgeschichte zu Kultur und Gesellschaft
Hatte das Historische Seminar seit den 1930er Jahren kontinuierlich mehr Studierende und Doktorierende angezogen, so intensivierte sich dieses Wachstum in den 1960er Jahren dramatisch. In Reaktion auf diese Entwicklung fand das Seminar zu seiner heutigen Gestalt: Assistierende wurden angestellt, eine Fachgruppe gegründet und das Lehrangebot erschien in erweiterter und koordinierter Form. Im selben Zeitraum war das Seminar auch inhaltlich in Bewegung.
Bereits in den 1930er Jahren war das Universalgeschichtliche auf neue Weise verheissungsvoll geworden, versprach es doch die Überwindung eines um sich greifenden rabiaten Nationalismus. Gleichzeitig gab die französische Annales-Schule Impulse zu konzeptuellen Erneuerungen der universalgeschichtlichen Perspektive. In diesem Kontext kamen in Basel Bemühungen auf, diese Tradition neu zu fassen: als eine umfassende Historisierung der conditio humana von Geschlechterbeziehungen über Vergesellschaftungsprozesse bis hin zu Krankheit und Tod.
Diesen Versuchen war zunächst wenig Erfolg beschieden. Indes reagierte man am Historischen Seminar auf andere und gleichermassen dringliche Weise auf das zeitgenössische Geschehen: Mit Werner Kaegi war die Humanismusforschung präsent – international wahrgenommen und zugleich in der Figur Jacob Burckhardts auch auf die eigene, lokale Historiographiegeschichte zurückgewendet. Unter Edgar Bonjour wurde das Historische Seminar zum Impulsgeber einer neu ausgerichteten politischen Geschichte der Schweiz, die auch in eine Neubewertung der schweizerischen Geschichtskultur münden sollte.
In den 1970er und 1980er Jahren kam die Hinwendung zu Gesellschaft und Lebenswelt wieder auf, nun im Kontext sozialer und emanzipatorischer Bewegungen sowie interdisziplinärer Kontakte. Im Austausch mit der Soziologie entfaltete sich die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, im Dialog mit der Sozial- und Kulturanthropologie die Historische Anthropologie. Diese Neuerungen vollzogen sich auf internationaler Ebene. In Basel aber stiessen sie auf eine starke Tradition, die dem historischen Blick die Vermittlung von Politik, Kultur und Gesellschaft immer wieder von neuem zugemutet hatte.
Europa, die Welt und kein Ende der Geschichte
Die nun mit Verve in Gang gekommene Diversifizierung der Geschichtswissenschaft verfolgte das Seminar in den 1990er Jahren auch in einem regionalen und thematischen Sinn: Nacheinander wurden Professuren für Osteuropäische Geschichte, Geschlechtergeschichte und Afrikanische Geschichte eingerichtet. Dabei ging und geht es nicht einfach um die Anhäufung von Perspektiven und Themen. Vielmehr ist solche Vervielfältigung das Resultat einer ebenso kritischen wie produktiven Auseinandersetzung mit den blinden Flecken einer als universalistisch deklarierten, aber allzu häufig einäugig ausgeführten Geschichtsschreibung.
351 Jahre nachdem die Geschichte als Sammlung staatspolitischer Vorbilder in die Universität Basel Einzug gehalten hat, ist Vielheit in einem anderen Sinn zum Programm geworden: Nicht in einem abgeschlossenen Kanon von Wissensbeständen und Ansätzen veranschlagt das Historische Seminar heute die Einheit des Fachs. Sondern in einem epochenübergreifenden und zukunftsoffenen Diskussionszusammenhang, innerhalb dessen jede Generation ihren Bezug zur Vergangenheit neu erkundet – und sich so Rechenschaft ablegt über die Verbindung von «Jetztzeit» und historischem Blick.