Tadeus Reichstein
Tadeus Reichstein wurde am 20. Juli 1897 in Wloclawek (Leslau, im damals russischen Teil Polens) als ältester von fünf Söhnen jüdischer Eltern geboren. Sein Vater hiess Isidor Reichstein. Seine Mutter, Gustava Brochmann, entstammte einer angesehenen Leslauer Familie.
Bereits als Kind war Tadeus Reichstein in der Apotheke von Verwandten zum ersten Mal mit pharmazeutischer Arbeit in Kontakt gekommen. Er durfte Pillen drehen und Sirup kochen, Pflaster streichen und bei vielen anderen Arbeiten in der Apotheke helfen. In der Wohnung seiner Eltern verwandelte er sein Schlafzimmer in ein Laboratorium und versuchte zusammen mit einem Freund, Eisenspäne durch chemische Reaktionen in Gold zu verwandeln.
Nach der Beendigung seiner Schulausbildung und Militärdienst im Ersten Weltkrieg begann er an der ETHZ ein Studium der Chemie. Nach vier Jahren schloss Reichstein sein Studium mit einem glänzenden Diplom in chemischen Ingenieurwissenschaften ab. Nach ersten, schlechtbezahlten Anstellungen bei einem Weinprüfer und einem Unternehmen, das sich der Verbesserung von Taschenlampenbetterien widmete, begann er 1921 seine Doktorarbeit unter der Leitung des Nobelpreisträgers Hermann Staudinger.
Forschung
1921 begann Tadeus Reichstein mit seiner Doktorarbeit unter der Leitung des Nobelpreisträgers Hermann Staudinger. Gleichzeitig konnte Tadeus Reichstein im Kellerlabor mit Leopold Ruzicka arbeiten und von dessen grosser praktischer Geschicklichkeit profitieren. Von 1922 bis 1931 arbeitete Tadeus Reichstein nach einem Plan Staudingers an der Isolierung der flüchtigen Komponenten des Aromas gerösteten Kaffees in einem kleinen Laboratorium in Albisrieden für die deutsche Firma Frank (Kathreiners Malzkaffee).
Chromatographische Methoden waren damals noch unbekannt und die Analyse kleinster Mengen komplizierter Mischungen instabiler Produkte stellte riesige Probleme. Mit fraktionierter Destillation, Trennung bei verschieden pH-Werten und schliesslich Auskristallisieren und Derivatisieren kam man aber dennoch zu den gewünschten Ergebnissen.
Staudinger publizierte diese Resultate zwar allesamt in seinen eigenen Patenten, aber Reichstein konnte mindestens seine neu gefundenen Reaktionen heterocyklischer Komponenten (Furane und Pyrrole) unter seinem eigenen Namen in der Helvetica Chimica Acta publizieren. Nach Abschluss der Arbeiten in Albisrieden konnte Leopold Ruzicka Reichstein überzeugen, bei ihm am organisch-chemischen Institut der ETHZ Assistent zu werden und eine akademische Karriere ins Auge zu fassen.
Vitamin C
Nach Jahren an der ETH wurde Reichstein zum Titular-Professor und schliesslich zum Extraordinarius gewählt. Seine schon bald aufgebaute Gruppe von Doktoranden und „post-doctoral" Studenten erlaubte ihm mehr und mehr, viel Energie in die Forschung zu investieren. Sein Interesse an Substanzen, die in der Medizin eine Bedeutung und grosses Potential haben, liess ihn die Vitamine als sein spezielles Forschungsgebiet auswählen.
Gesucht wurde ein Syntheseweg, um Vitamin C künstlich herzustellen. Als Ausgangsmaterial sollte ein Zucker, L-Sorbose, dienen, der zwar bekannt, aber im Handel nicht erhältlich war. Wie weiter? Es war bekannt, dass es Bakterien gibt, die Sorbitol in L-Sorbose verwandeln können. Man dachte damals, es wären die Schleim bildenden Mikroorganismen in der Essigmutter. Reichstein hatte sofort die Idee, es auf diesem Weg zu versuchen. Doch viele Proben von Schimmelkulturen schlugen fehl. Keine Sorbose wurde produziert. Angeregt durch eine Literaturarbeit aus dem 19. Jahrhundert stellte Tadeus Reichstein kurzerhand ein neues Experiment zusammen. Gläser mit wässriger Sorbitollösung, Hefe und etwas Essig (der pH-Wert muss um 5 liegen, damit keine anderen Bakterien wachsen) wurden für ein paar Tage ins Freie gestellt. Drei der Gläser enthielten nachher immer noch Sorbitol, aber drei enthielten einen Niederschlag von weissen Kristallen. Die Analyse zeigte, dass es sich um reine L-Sorbose, den so dringend gesuchten Zucker, handelte.
Was war geschehen? Die Umsetzung war von Bakterien vollbracht worden, die man später als Acetobacter suboxydans bezeichnen sollte. In einem der Gläser schwamm eine tote Fruchtfliege, an deren Bein Kristalle von L-Sorbose angewachsen waren. Offensichtlich hatte sich auf dem Fliegenbein eine Besiedlung mit genau diesen Bakterien befunden.
Schnell waren die Bakterien kultiviert und nach wenigen Tagen schon hatte man 100 Gramm reine Sorbose hergestellt. Der Rest ging nach Plan. Zusammen mit seinem Doktoranden R. Oppenauer konnte Reichstein den Syntheseweg, Acetylierung und Oxidation, weitergehen und synthetisches Vitamin C konnte somit auch auf einem gewerblich interessanten Weg hergestellt werden. Es ist beachtlich zu sehen, dass Reichsteins ausgeklügelter Syntheseweg bis heute nicht geändert wurde und noch heute jedes Jahr viele Tausend Tonnen Vitamin C auf diesem Weg hergestellt werden.
Basel und das Pharmazeutische Institut am Totengässlein
1938 wurde Reichstein der Lehrstuhl für Pharmazie der Universität Basel angeboten. Er nahm das Angebot und leitete so von 1938 bis 1950 das Pharmazeutische Institut der Universität Basel. Er musste das Institut modernisieren und auf einen internationalen Arbeitsstandard bringen, was ihm schnell gelang. Er ging in seiner Forschungsarbeit auf und bezeichnete später seine zwölf Jahre am Basler Pharmazeutischen Institut, trotz der Katastrophe, in welche ganz Europa in dieser Zeit hineinstürzte, als die fruchtbarsten und glücklichsten seines Lebens.
Selbstverständlich hatte Reichstein seinen engsten Mitarbeiter, Joseph von Euw, nach Basel mitgenommen und baute schnell eine kleine Gruppe von Studierenden und Mitarbeitern auf. Das neue Arbeitsgebiet waren die Hormone aus der Nebennierenrinde. Reichstein hatte sich schon seit 1934 – also noch an der ETHZ – mit diesen Stoffen befasst. Er und seine Gruppe isolierten nun etwa 30 chemisch eng verwandte, aber in ihrer biologischen Wirkung höchst unterschiedliche Corticosteroide. Die meisten konnten sogar kristallin dargestellt werden. Auch die so genannte Substanz E war darunter, heute allen bekannt als Cortison. Die biologischen Funktionen dieser Stoffe sind vielfältig. Sie steuern den Zuckerstoffwechsel, spielen eine grosse Rolle bei der Entwicklung der Nervenzellen und der Herzmuskelzellen, sind Sexualhormone und beeinflussen auch das ganze Immunsystem. Kein Wunder war ihre Isolierung und Identifizierung eine höchst wichtige Aufgabe. Nur jemand mit Erfahrung in Naturstoffchemie kann sich vorstellen, wie schwierig es sein kann, Stoffe von grösster chemischer Verwandtschaft, die nur in kleinsten Mengen in einer grossen Masse organischen Materials vorliegen, auseinander zu dividieren. Aus über einer Tonne Schlachtabfällen (Nebennieren von Rindern) wurden diese Stoffe schliesslich im Milligrammbereich dargestellt.
Wenn man weiss, dass diese Stoffe ja auch Mischkristalle bilden und sich vorstellt, dass noch keine modernen chromatographischen Methoden bekannt waren, staunt man, dass Reichstein nicht verzweifelte. Andere Gruppen im Ausland arbeiteten am selben Problem und dies führte zusätzlich zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Aber die Ziele wurden erreicht, die Stoffe isoliert und publiziert. Zusammen mit seinen amerikanischen Konkurrenten (Hench und Kendall) erhielt Tadeus Reichstein 1950 den Nobelpreis für Medizin. In seiner Rede bei der Preisverleihung dankte Reichstein seinen Konkurrenten (und Mitpreisträgern) für ihre gegenseitige Hilfe. Er sagte damals, dass er nur ihnen den Preis zu verdanken habe, weil erst durch sie die biologische Bedeutung dieser Stoffe bekannt und damit die internationale Aufmerksamkeit erregt wurde.
Wiederum war auch die Möglichkeit zur (halb-)synthetischen Produktion – insbesondere von Cortison – ein Resultat seiner Arbeit. Ausgangsstoffe dafür waren Gallenfarbstoffe und Pflanzenmaterial aus Afrika (sog. Strophantus-Arten). Reichstein hatte schon 1947 zwei seiner Assistenten für Monate nach Afrika auf eine Exkursion geschickt, um sie nach geeignetem Ausgangsmaterial suchen zu lassen. Schon während des Krieges war nämlich ein Wettlauf um die möglichen botanischen Quellen von Steroiden – insbesondere von solchen mit einer Sauerstofffunktion in Stellung 11 – entstanden. Man erhoffte sich von einer industriellen Produktion dieser neuen Stoffklasse nicht nur grössten finanziellen Gewinn, sondern zeitweise sogar kriegsentscheidende Vorteile.
Das Institut für Organische Chemie
1948 verstarb der damalige Leiter des Institutes für organische Chemie unerwartet und Reichstein wurde angefragt, ob er diese Stelle übernehmen wolle. Er wollte dies nicht zurückweisen und so führte er vier Jahre lang beide Institute gleichzeitig, obwohl er, wie er später sagte, viel lieber am Totengässlein geblieben wäre, um sich weiter seiner Forschung zu widmen. Das chemische Institut musste stark erweitert und modernisiert werden. Für zwei Jahre hatte Reichstein grösste Arbeit zu leisten, um den Grossen Rat von der Wichtigkeit und Richtigkeit dieses Projektes zu überzeugen. Es ist ihm gelungen. Seine feste Meinung, dass die ganze Stadt Basel von dem Erschaffenen der chemischen Forschung profitieren werde, hat sich durchgesetzt und aus heutiger Sicht ja auch unzweifelhaft bestätigt.
Das Institut für Organische Chemie wurde von Grund auf neu gebaut. Seine Vision, aber auch seine Energie und Durchschlagskraft, ermöglichten Reichstein den ganzen Wiederaufbau und die Reorganisation des Institutes erfolgreich zu vollenden. Anders als viele Kollegen aus der Wissenschaft scheute Reichstein die administrative Arbeit nicht und war entschlossen, eine grossartige Lehr- und Forschungsinstitution aufzubauen.
Sein Erfolg gab ihm Recht. Hunderte von Wissenschaftlern haben an diesem Institut in den folgenden Jahrzehnten gearbeitet und Forschung auf internationalem Niveau betreiben können.