«Es sei ferne die Erwähnung jeglicher Klage!»
Die Festrede von Rektor Johann Rudolf Thurneysen zur Dreihundertjahrfeier der Universität Basel am 15. April 1760.
Es waren keine guten Zeiten für Rektor Johann Rudolf Thurneysen und seine Schule. Es waren jene Zeiten, an die spätere Rektoren bei späteren Jubelfeiern mit grösster Sorge zurückdenken. Soviel sei damals, rund um das Jahr 1760, im Argen gelegen. Die Übelstände, die anfänglich weniger fühlbar waren, seien zu dieser Zeit immer deutlicher hervorgetreten, sagt beispielsweise Rektor Peter Merian während der Jubiläumsfeier hundert Jahre später. Noch deutlicher wird Professor Eberhard Vischer anlässlich der Vierhunderfünfzigjahr-Feier im Jahr 1910: «Trotz der Tüchtigkeit mancher Professoren befand sich die Anstalt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in offenkundigem Verfalle.» Und Rektor Ernst Staehlin nennt diese Phase während seiner Jubelrede im Jahr 1960 gar eine «Krisis auf Leben und Tod».
Die Gründe für die Klagen sind immer die gleichen. Nachdem die Reformation im frühen 16. Jahrhundert auch in der Universität ihre Umsetzung gefunden hatte, verharrte die Hohe Schule im Erreichten. Die Strukturen wurden nicht mehr verändert und verkrusteten. Staat und Hochschule entfernten sich voneinander, Professoren durften nicht mehr in städtische Gremien gewählt werden, die Besoldung war äusserst bescheiden und die Lehrstühle wurden beinahe durchgehend von Baslern besetzt – klingende Namen aus dem Ausland kamen nicht mehr an die hiesige Uni. Dazu kam die Besetzung der Lehrstühle durch das Los: Eine freie Stelle wurde unter den drei am besten geeigneten Anwärtern verlost. Die Nachteile des Lossystems waren damals nicht offenkundig, analysiert Peter Merian hundert Jahre später, ja, es wurde gar als das «Palladium unserer bürgerlichen Freiheit» angesehen. Trotzdem habe das System der Universität nicht gut getan: «Wenn aber auch die Nachtheile nicht unmittelbar hervortraten, so musste das Loos nothwendiger Weise zur allmähligen Erschlaffung des wissenschaftlichen Lebens beitragen, da (...) dem aufstrebenden Talente die Zuversicht benommen war an die ihm gebührende Stellung zu gelangen, und der Mittelmässigkeit gleiche Berechtigung eingeräumt war.»
Wunderbare Vorzüge
Die in lateinisch gehaltene Rede von Rektor Thurneysen ist trotz dieser schwierigen Umstände optimistisch, manchmal gar überbordend. Die Universität Basel habe einige besondere und bedeutsame Vorzüge, die keiner anderen Akademie gewährt sei: «Und eben von diesen wunderbaren Vorzügen zu sprechen, gebietet mir, erlauchteste Zuhörer, die Festlichkeit des Tages.» Die Vorzüge seien so bedeutend, das kaum, «ja nicht einmal nur kaum», die berühmtesten Akademien von ganz Europa ähnliche Vorzüge anführen könnten.
Dabei sei der vorzüglichste dieser vorzüglichen Vorzüge der «segenspende Frieden», welcher der Universität die vergangenen 300 Jahre gewährt worden sei. Kaum eine Akademie gebe es, die während ihrer Geschichte nicht mindestens einmal vom Krieg heimgesucht worden sei. Der zweite Vorzug sei die Behandlung der Stadt durch Gott. Der Vater der Lichter habe das Vaterland so gnädig bedacht, dass was ihm an der Grösse des Gebietes oder der Anzahl Bürger abgeht, «reichlich durch die Menge hervorragender Männer ersetzt wird». Im Laufe eines einzigen Jahrhunderts seien mehr hervorragende Männer aus der Basler Schule hervorgegangen, als in den grössten Königreichen des restlichen Europas.
Dazu komme, dass diese hervorragenden Männer mehr antreibt als Ehrungen oder Belohnungen. Thurneyesen kommt zum springenden Punkt und spricht die schlechte Entlöhnung und die noch schlechtere Stellung der Professoren in der restlichen Stadt direkt an: «So bewundern wir selbst mit noch grösserem Recht das glückliche Gedeihen unserer Schulen und das so reiche Hervorbrechen genialer Geister, weil wir keineswegs verkennen können, dass es mehr der den Herzen unserer Bürger von Gott her eingegebene Anreiz des Edeln und Guten ist, der sie zum Weiterverfolgen ihrer Studien antreibt, als die bescheidenen Ehrungen, welche den Wissenschaften und Künsten bei uns zu Teil werden, und die dürftigen Belohnungen und Rechte, welche Diejenigen geniessen, die ihre Lebenszeit auf sie verwenden.» Und darum, so schliesst Thurneysen seinen fulminanten Appell, «es sei ferne von der Erinnerung an Gottes Wohltaten uns gegenüber und von der Freude dieses Tages die Erwähnung jeglicher Klage!».
Edler Eifer
Thurneysen variiert sein Thema noch in verschiedenster Art und Weise. Der Grundtenor bleibt dabei der gleiche: Der Rektor ist stolz auf seine Mitprofessoren, die ohne die ihnen gebührende Entlöhnung oder gesellschaftliche Stellung und nur durch den «edlen Eifer für die Wissenschaft» angetrieben, daran arbeiteten, dass die Schule von Tag für Tag vortrefflicher werde. «Das sei euer Ruhm, das sei eure Zier, dass je weniger Recht euch in der Verwaltung der übrigen Teile des Staatswesens eingeräumt, (...) umso heller euer eifriges Bestreben, die Akademie zu fördern, aufleuchte!»
Der Rektor hofft, dass dieser Antrieb auch bei späteren Generationen noch vorhanden sei werde, dass die göttliche Vorsehung auch das vierte Jahrhundert der Universität mit «hervorragenden Wohltaten» überschütte. So dass die Nachkommen, wenn sie der Zeit um 1760 gedenken, «die ihrige als bessere oder wenigstens (was geizigen Wünschen genügt) als den unsern gleiche mit Recht und in Dankbarkeit preisen können!»
Studiert man die späteren Reden und die darin enthaltenen Rückblicke auf das 18. Jahrhundert, darf man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass die geizigen Wünsche bei weitem übertroffen wurden.