Der juristische Methodenstreit nach 1500
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden heftige Diskussionen über die angemessene Methode in der Wissenschaft vom weltlichen Recht geführt. Die Frage, ob der französischen («mos gallicus») oder der italienischen («mos italicus») Richtung der Vorzug zu geben sei, trieb auch die Basler Fakultät um. Nach einer anfänglichen Parteinahme für die französische Rechtsschule wurde mit Bonifacius Amerbach eine vermittelnde Position angestrebt.
Die über Jahrhunderte betriebene Auslegung des in der Zeit um 530 erstellten justinianischen «Corpus Iuris Civilis» hatte zu einer unüberschaubaren Menge von Glossen und Kommentaren geführt. Unter Glossen versteht man die neben und zwischen die Zeilen gefügten Erläuterungen, mit welchen italienische Rechtsgelehrte des 12. und 13. Jahrhunderts die Quellen des römischen Rechts versahen. Kommentare sind dagegen ausführlichere Erklärungen, die zwischen dem späten 13. und dem Ende des 15. Jahrhundets entstanden. Die Kommentatoren werden, weil sie auf die Zeit der Glossen folgen, häufig auch als Postglossatoren bezeichnet. Nach italienischer Wissenschaftssitte kam den in Glossen und Kommentaren niedergelegten Interpretationen zuweilen grössere Autorität zu als dem direkten Rekurs auf die zugrunde liegenden Gesetzestexte.
Ad fontes: Der Weg vom Kommentar zum Text
Der französische Humanismus suchte dagegen durch philologisch-historischen Textvergleich eine reine, autoritative Rechtsquelle zurückzugewinnen. Solche Bemühungen wurden in Basel insbesondere vom Lothringer Claudius Cantiuncula (französischer Name: Claude Chansonnette) unternommen, der zwischen 1518 und 1524 die Professur für römisches Recht inne hatte. Angeregt durch die französische Humanistenschule um Gulielmus Budaeus (1468-1540) und den lange in Frankreich lehrenden Italiener Andreas Alciatus (1492-1550) trat er den mittelalterlichen Interpreten des römischen Rechts entgegen, deren Methode des «mos italicus» auch den in Basel gepflegten Unterricht geprägt hatte. Cantiunculas Einfluss in der juristischen Lehre und Praxis erleichterte seiner methodischen Position den Eingang in den akademischen Betrieb. Da er seine Haltung in Basel zu verbreiten suchte, lag Cantiuncula beim Weggang aus Basel an einer geeigneten Nachfolge.
Dem Basler Rat empfahl er den damals an der Artistenfakultät lehrenden Philologen Johannes Sichardus. An die juristische Fakultät berufen, widmete sich dieser bis zu seinem Weggang 1530 als entschiedener Verfechter des «mos gallicus» in erster Linie der wissenschaftlichen Quellenedition. In der kurzen Zeit zwischen 1526 und 1530 fungierte er als Herausgeber von 24 Bänden, die 113 verschiedene Quellenausgaben enthielten. Zwei Drittel dieser Quellen erschienen dabei in ihrer ersten Edition. Für seine Arbeit wandte Sichardus die Editionstechniken des oberrheinischen Humanistenkreises auf den Bereich juristischer Schriften an und gewann dadurch die Anerkennung seines Lehrers und Förderers Ulrich Zasius sowie das Lob von Erasmus, Melanchthon und Oekolampad.
Bonifacius Amerbach und die Rehabilitierung der älteren Jurisprudenz
Die von Sichardus bekundete Geringschätzung der Kommentare und Glossen teilte der keineswegs weniger humanistisch gebildete Bonifacius Amerbach nicht. Auch er war ein Schüler des Zasius, hatte zudem bei Alciatus in Avignon studiert und war im Umgang mit beiden Lehrern mit dem «mos gallicus» vertraut geworden. Ein enger Freund des Erasmus, dessen Erbe er später verwalten sollte, stand er - wie auch Sichardus und Cantiuncula - der Reformation zunächst kritisch gegenüber. Zwischen 1525 und 1548 unterrichtete Amerbach in Basel in verschiedenen Anstellungen römisches Recht. Gegen Sichardus' Angriffe auf die Interpreten des römischen Rechts wandte sich Amerbach ab 1524 zunächst in privaten Briefen, später bis zum Ende seiner universitären Wirksamkeit auch innerhalb seiner Werke - hier allerdings nicht in der Form persönlicher Gegenangriffe, sondern als wissenschaftliche Verteidigung der Gegenposition.
Dabei suchte er die Leistungen der Glossatoren und Kommentatoren herauszustellen und die Aufmerksamkeit auf ihre Bedeutung für die zeitgenössische Rechtswissenschaft und Rechtspraxis zu lenken. Amerbachs 1525 in Basel gehaltene Antrittsrede, die er im selben Jahr als Promotionsrede in Avignon vorgetragen hatte, war eine Apologie der bisherigen Jurisprudenz: «Defensio interpretum iuris civilis». Nicht nach ihrem holprigen Latein seien die älteren Rechtslehrer zu bewerten, sondern nach ihren juristischen Inhalten: «Rem iuridicam tractarunt, non latinam, iura civilia, non rhetoricen.» Und da die jungen Juristen nicht zu Philologen, Historikern oder Rednern ausgebildet würden, lohne eine kritische Auseinandersetzung mit den früheren Doctores durchaus. Da Sichardus 1530 nach Freiburg übersiedelte, ergab sich für Amerbach die Möglichkeit, seine methodischen Positionen innerhalb der Basler Legistik durchzusetzen. Seinen Hörern empfahl er denn auch stets das Studium der justinianischen Rechtsbücher einschliesslich Glosse und Kommentaren.
Rechtswissenschaft als moralphilosophische Disziplin
Die methodischen Unklarheiten, die in jahrhundertelanger Deutungsarbeit nicht nur beseitigt, sondern in manchen Punkten erst gewachsen waren, glaubte Amerbach mittels des Studiums der klassischen Philosophie erhellen zu können. Denn die Rechtswissenschaft galt ihm als Teil der Moralphilosophie; über ihre Grundlagen sei deshalb nicht zuletzt bei Platon und Aristoteles die rechte Auskunft zu finden. Platons Dialoge über den Staat und über die Gesetze sowie die Ethik und Politik des Aristoteles sollten zu diesem Zweck studiert werden. Entsprechend forderte Amerbach schon 1535 die Einrichtung eines Lehrstuhls für Moralphilosophie, der die angehenden Juristen mit der antiken Philosophie vertraut machen sollte.
Bonifacius Amerbach, der mit den Exponenten der französischen Humanistenschule verkehrte, Schüler des Zasius und Alciatus, aber auch ein Freund Cantiunculas war, nahm deren Anregungen in vielerlei Hinsicht auf, ohne den Nutzen, den Glossen und Kommentare für das Studium des römischen Rechts brachten, zu übersehen. Obschon Amerbach keine grösseren wissenschaftlichen Schriften hinterliess, sollte die von ihm vollzogene Synthese von «mos gallicus» und «mos italicus» für die schweizerische Rechtsgeschichte wegweisend bleiben und wurde in der späteren Lehre und Praxis bewahrt.