Der Einfluss des Gesellschaftlichen Wandels auf die Frauenmedizin

Ebenso interessant wie die Rückschau auf detaillierte medizinische Prozeduren oder universitäre Lehrkonzepte ist der Blick auf eine gesellschaftliche Veränderung, welche die soziale Stellung der Frau in den vergangenen 50 Jahren so umwälzend verändert hat, wie in keiner geschichtlichen Epoche zuvor. Wenn man diese Entwicklung in einem Satz auf den Punkt bringen möchte, so wäre es wohl das Faktum, dass sich die letzten zwei Generationen junger Frauen deutlich weniger als alle Generationen zuvor extern auferlegten gesellschaftlichen Beschränkungen und Vorstellungen ausgesetzt sehen, wie ihr Leben (als Frau) auszusehen habe.

Heute ist die individuelle Freiheit, das Leben auch ausserhalb konservativer weiblicher Lebensmuster zu planen und zu gestalten, eine Selbstverständlichkeit geworden. An den drei Themen Schwangerschaftsabbruch, Kontrazeption und Reproduktionsmedizin kann beispielhaft gezeigt werden, wie sich der Umgang mit frauengesundheitlichen/gynäkologischen Problematiken und ihren medizinischen Lösungen auf der einen und das Umdenken bezüglich gesellschaftlicher Konventionen auf der anderen Seite gegenseitig katalysieren. 

Das am längsten und wohl auch am intensivsten und emotionalsten diskutierte Thema stellt sicher die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs dar, insbesondere die Kollision zwischen der Entscheidungsfreiheit der Frau und dem Lebensrecht und der Menschenwürde des ungeborenen Kindes. In der Schweiz ist seit Oktober 2002 der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche landesweit straffrei. Diese Regelung wurde nach einer Volksabstimmung eingeführt, bei der die so genannte Fristenlösung eine Zustimmung von 72,2 Prozent der Stimmberechtigten fand. Bis zur 12. Schwangerschaftswoche wird die Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch der Frau überlassen und dieser ist in diesem Fall straffrei. Nach der 12. Woche ist ein Schwangerschaftsabbruch nur noch erlaubt, wenn ein Arzt eine schwerwiegende Gefährdung der körperlichen oder seelischen Gesundheit der Frau feststellt. Die Kosten für den Schwangerschaftsabbruch werden von den Krankenkassen übernommen

Bereits in den dreissiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzte sich der damalige Direktor der Frauenklinik, Alfred Labhardt, für das 1942 in Kraft getretene Indikationsmodell im Schweizerischen Strafgesetzbuch ein. Aus heutiger Sicht wirken Labhardts Ansichten zum Schwangerschaftsabbruch zwar konservativ, dennoch muss, besonders im Vergleich mit anderen europäischen Ländern, der Schweizer Vorstoss als äusserst progressiv angesehen werden. Labhardt war aus alter Basler Tradition heraus ein engagierter Sozialmediziner. So konservativ er in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs war, so aufgeschlossen war er in der Frage der Schwangerschaftsverhütung, welche er als ein vordringliches soziales Thema ansah. 

Das zweite zentrale sozialmedizinische Thema der Frauenheilkunde, der Komplex Kontrazeption/Familienplanung, erfuhr in den sechziger Jahren mit der Einführung der „Antibabypille" eine nachhaltige Veränderung. Frauen konnten jetzt so frei wie nie über ihr Sexualleben und ihre Reproduktion bestimmen. Positiv formuliert war die Pille also kein Mittel der Schwangerschaftsverhütung, sondern eher ein Instrument, mit der die Familien- und damit die Lebensplanung eigenverantwortlich in die Hand genommen werden konnte. Die Ära der sexuellen Befreiung der Frau, die in den sechziger und siebziger Jahren einsetzte, ist ohne die Einführung von Kontrazeptiva nicht denkbar. Heute sind Frauen aller Altersgruppen in der Lage, aus einer Vielzahl von Verhütungsmethoden die für sie ideale Lösung zu wählen.

Seit den achtziger Jahren (1978 wurde in England das erste Kind nach künstlicher Befruchtung geboren) erlauben die Methoden der Reproduktionsmedizin auch eine künstliche Fortpflanzung. Die Hauptmethoden der Fertilisation sind in-vivo, z.B. homologe oder heterologe intrauterine Insemination, vor allem aber in-vitro (IVF); bei eingeschränkter Spermienqualität des Mannes kommt heute die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) zur Anwendung. Nach Schätzungen sind bisher weltweit über drei Millionen Kinder nach künstlicher Befruchtung geboren worden. 
Bereits zu Beginn der achtziger Jahre wurde die Reproduktionsmedizin in Basel eingerichtet. Unter der Führung von Professor Ludwig entstand in der Basler Klinik die erste Schwangerschaft nach IVF-Fertilisation in der Schweiz. Leider kam es in dieser Schwangerschaft kurz vor dem Entbindungstermin zum intrauterinen Tod der Fruchtanlage. Auf öffentlichen Druck hin (kontroverse Diskussionspunkte waren u.a. die zunächst hohe Anzahl an heterologen Inseminationen, d.h. Befruchtungen mit Fremdsperma anonymer Spender, später auch der ethische Hintergrund der IVF-Technik) wurde dieses Programm 1990 gestoppt. Erst auf eine staatsrechtliche Beschwerde von Betroffenen sowie Mitgliedern der Basler Frauenklinik (Ludwig, Almendral, Pavic) setzte das schweizerische Bundesgericht dieses Verbot ausser Kraft, so dass ab 1996 wieder ein kantonaler Leistungsauftrag zur Reproduktionsmedizin an die Universitäts-Frauenklinik erging. Wesentliche Grundzüge der kantonalen Gesetzgebung wurden in das seit 2001 geltende landesweite „Fortpflanzungsmedizingesetz" übernommen.

 

Christian de Geyter, der das reproduktionsmedizinische Programm in der Frauenklinik Basel seit 1996 leitet, hat ein international hoch anerkanntes Zentrum aufgebaut. Im Jahr 2007 sind rund 150 Kinder nach Einsatz reproduktionsmedizinischer Techniken in dieser Abteilung zur Welt gekommen. Die Reproduktionsmedizin erlaubt aber nicht nur kinderlosen Ehepaaren, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. In der Praxis führt sie auch dazu, dass sich eine Vielzahl von Frauen ihren Kinderwunsch vergleichsweise spät erfüllen können. Dieses zeigt sich auch am Durchschnittsalter der Patientinnen, bei denen in der Basler Klinik heute reproduktionsmedizinische Therapien zum Einsatz kommen, es liegt bei 37 Jahren.

Die oben genannten drei grossen Themen „Schwangerschaftsabbruch“, „Schwangerschaftsverhütung“ und „Reproduktionsmedizin“ bedeuteten aber im gesellschaftlichen Kontext viel mehr als lediglich die freie Wahlmöglichkeit, ob, wann, wie und wie viele Kinder eine Frau bekommen möchte. Die Beschäftigung mit diesen Themen war immer komplex, der Austausch der vielschichtigen medizinischen, rechtlichen und ethischen Gesichtspunkte nicht selten emotional und konfliktgeladen. Im Zuge dieser Diskussionen erstarkte auch die Frauenbewegung und etablierte sich als gesellschaftlich einflussreiche Gruppe, welche sich zunehmend Gehör verschaffte. Die gesellschaftliche Autonomie der Frau, und mit ihr auch die körperliche Selbstbestimmung, wurden in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Das Fach Gynäkologie und Geburtshilfe und seine Vertreter sahen sich vermehrt kritischen Fragen ausgesetzt. Kritikpunkte waren unter anderem die hohe Zahl an (mutmasslich) zu leichtfertig indizierten Gebärmutterentfernungen und eine zunehmend technisierte Geburtshilfe, die den natürlichen Abläufen der Geburt keine Rechnung mehr trug und in der das individuelle Geburtserlebnis, auch bei komplikationslosen Verläufen, durch programmierte Verfahren in den Hintergrund gedrängt wurde; auch der (vermeintlich) unsensible und respektlose Umgang der (meist männlichen) Frauenärzte mit der Patientin während einer gynäkologischen Untersuchung wurde Gegenstand der Diskussion. 

Auffallend ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine Wechselwirkung zwischen frauenmedizinischem und gesellschaftlichem Fortschritt entwickelt hat. Dabei war zu Beginn der jeweiligen Entwicklung der oben genannten drei zentralen Themen die gesellschaftliche Dimension im Sinne der Stärkung der Position der Frau noch nicht deutlich fokussiert. Initial bestand bei der Frage der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs viel mehr die Notwendigkeit und das Ziel, praktikable Lösungen für ein Vorgehen zu finden, welches vorher nicht selten in der Illegalität von medizinischen Laien, oft zu erheblichem Schaden der betroffenen Frauen, betrieben wurde. Im Falle der medikamentösen Kontrazeption und Reproduktionsmedizin standen zu Beginn meist rein wissenschaftliche, aber auch wirtschaftliche Interessen sowie die Faszination des Machbaren im Vordergrund. Mit der Etablierung der Methoden der genannten Themenbereiche, begleitet von einer offenen Diskussion, wurden im Weiteren dann aber auch ihre (möglicherweise zu Beginn ihrer Entwicklung gar nicht intentionierten) gesellschaftspolitischen Implikationen evident. Der von Wechselwirkungen zwischen Medizin und Gesellschaft getragene Diskurs wurde zunehmend zu einer sich gegenseitig befruchtenden Interaktion. Im praktischen Sinne bedeutet dieses, dass sich vermehrt Frauen, nicht zuletzt begünstigt durch die Freiheitsgrade, welche die Entwicklungen auf dem Gebiet der Frauenmedizin ihnen bot, an der öffentlichen Diskussion gesellschaftlicher und politischer Themen beteiligten und diese auch mit zunehmend progressiveren Inhalten weiterführten. 

Im Verlauf dieses Diskurses kam es auch zu einer durchgreifenden inhaltlichen und konzeptionellen Änderung des Faches Frauenheilkunde. War die Gynäkologie in den fünfziger Jahren noch weitgehend spezifisch auf die Organe des kleinen Beckens fixiert, so wurde in jüngerer Zeit der Begriff „Frauengesundheit“ geprägt. Eine moderne Frauenklinik ist heute eine interdisziplinär arbeitende Institution, die Frauen in allen Lebensphasen kompetent betreut, berät und begleitet. Alte Grenzziehungen zwischen den Disziplinen verschwimmen. Die moderne Medizin orientiert sich stärker als vorherige ärztliche Generationen an den besondere Bedürfnissen und Anforderungen von Frauen. Im neuen Gesundheitskonzept stehen Selbstbestimmung und Würde der Frau im Mittelpunkt. Viel stärker als vorherige Generationen sind viele heutige Patientinnen gut informiert (mit der weiten Verbreitung des Internet ist der Arzt heute nicht mehr alleiniger Wahrer des medizinischen Wissens) und werden so immer mehr zu gleichwertigen Partnern in der Konsultation.

Ein wichtiger Faktor in der Änderung der Atmosphäre im Fach Gynäkologie und Geburtshilfe ist sicher auch der Entwicklung zuzuschreiben, dass zunehmend Ärztinnen im Fach tätig sind. Noch in der Mitte der siebziger Jahre betrug der Frauenanteil im ärztlichen Team der Basler Frauenklinik 25-30%, aktuell liegt er bei 80%. Die Führung der Frauenklinik hat diese Strömung aufgenommen und versucht seit Jahren, innovative Arbeitszeitmodelle zu schaffen, die es erlauben, akademische Arbeit und Familie zu vereinbaren. Unabhängig von der Frauenheilkunde wird sich die Medizin in naher Zukunft damit auseinandersetzen müssen, frauen- und damit familiengerechte Beschäftigungsstrukturen zu schaffen. Von den 2007 in Basel im Fach Medizin immatrikulierten Studierenden waren 57.3% Frauen (n=1152).

Die beschriebenen gesellschaftspolitischen Veränderungen wurden über Jahrzehnte auch von engagierten Sozialmedizinern in der Frauenheilkunde vorangetrieben. Dieses Engagement entspricht durchaus alter Basler Tradition. Die Frauenklinik verstand sich nach ihrer Gründung 1868 ausdrücklich auch als „Asyl für unbemittelte und verlorene Frauen", die aus dem sozialen Netz herausgefallen waren. 1870 waren 78% der Wöchnerinnen in der Klinik ledige Mütter, ein Status, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einem gesellschaftlichen Stigma gleichkam. Um die Jahrhundertwende lag der Anteil „illegitimer Geburten" noch immer bei 20%. 

Bereits in den dreissiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzte sich der damalige Direktor der Frauenklinik, Alfred Labhardt, für das 1942 in Kraft getretene Indikationsmodell im Schweizerischen Strafgesetzbuch ein. So konservativ seine Einstellung zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs aus heutiger Sicht ist, so aufgeschlossen war er in der Frage der Schwangerschaftsverhütung, welche er als ein vordringliches soziales Thema ansah.

Wenn über die Gestaltungskraft Basler Persönlichkeiten in der Sozialmedizin die Rede ist, muss Marianne Mall-Häfeli vorgestellt werden. Sie trat noch zu Amtszeiten Theodor Kollers in die Frauenklinik ein und leitete später bis 1988 die Abteilung für Sozialmedizin. Diese wurde durch sie weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. So wurde das von ihr erarbeitete „Basler Modell" in Deutschland als eine Grundlage für die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruches übernommen. Frau Mall-Häfeli war eine der ersten Frauen in der Medizinischen Fakultät. Darüber hinaus engagierte sie sich viele Jahre in der Politik, unter anderem gehörte sie zwei Legislaturperioden dem Basler Grossrat an und kandidierte für den Ständerat. Johannes Bitzer und Sibil Tschudin führen derzeit die Basler Tradition der Sozialmedizin fort.

Wenn man sich die Entwicklung der oben skizzierten Frauengesundheit vor Augen führt, so darf festgestellt werden, dass die Diskussion darüber in entscheidendem Masse auch an dem Ort geführt wurde, an dem sich die Medizin mit eben dieser Frauengesundheit auseinandergesetzt hat: an der Frauenklinik. Manchen Progressiven mag die Diskussion vielleicht nicht fortschrittlich genug gewesen sein , manche Konservative sahen vielleicht die Tradition nicht genug beachtet. Fakt ist: der Diskussion und der kritischen Auseinandersetzung wurden in der Frauenklinik ein Forum gegeben Die ehemalige Basler Regierungsrätin Veronica Schaller schrieb 1996 zur Hundertjahrfeier der Klinik, dass für sie wie für viele andere Frauen „der Einstieg in die Diskussion um Ziele und Methoden der Medizin überhaupt" durch das Frauenspital erfolgte. Zu den traditionellen frauenheilkundlichen Themen „Schwangerschaftsabbruch" und „Reproduktionsmedizin" sind weitere hinzugekommen. Zu nennen wäre in der Onkologie die Diskussion um Sterbehilfe und assistierten Suizid bei unheilbar Kranken. Darüber hinaus müssen zwei Felder genannt werden, an deren Weiterentwicklung sich die Basler Frauenklinik seit vielen Jahren mit Forschungsschwerpunkten aktiv beteiligt: die Diagnostik am Ungeborenen im Mutterleib mit der Möglichkeit, genetische Erkrankungen und Fehlbildungen frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren, sowie die Forschung und der Umgang mit menschlichen embryonalen und hämatopoetischen Stammzellen aus Nabelschnurblut. 

Da zukünftige gesellschaftliche Strömungen stets neue Standpunkte zu diesen drängenden medizin-ethischen Fragestellungen fordern werden, liegt es auf der Hand, dass diese Themen nie erschöpfend diskutiert sein können. Neue Problematiken und Sichtweisen werden sich aufdrängen. Eines darf aber als sicher gelten: die Frauenklinik wird auch in Zukunft ein exponiertes Diskussionsforum sein, mitten in der Gesellschaft.