Wandlungen des klinischen Alltags

Wenn man auf die letzten 50 Jahre der Universitäts-Frauenklinik zurückschaut, um die Bedeutung und den Einfluss dieser Institution zu würdigen, so kann dieses zum einen durch den Vergleich des klinischen Alltages zwischen Gestern und Heute erfolgen. Hier sind die Unterschiede zwischen den fünfziger Jahre und heute allerdings manchmal so erheblich, dass kaum noch Parallelen gezogen werden können.

Damals etablierte Einrichtungen und medizinische Prozeduren, wie z.B. der Isolierpavillon oder Licht- und Liegekuren bei Genitaltuberkulose, erscheinen uns heute so historisch wie entsprechende Szenarien in Thomas Manns „Zauberberg“. Konzeptionelle Irrtümer in der Betreuung der Patientinnen, z.B. die damals üblichen, thromboembolische Ereignisse geradezu herausfordernden, langen Immobilisationszeiten, sowohl im Wochenbett als auch postoperativ nach gynäkologischen Eingriffen, konnten inzwischen als solche identifiziert und korrigiert werden. In manchen Bereichen, wie der geburtshilflichen Analgesie sind wir froh, dass die damals zur Verfügung stehenden Methoden wie Durchtrittsnarkose und Dämmerschlaf durch innovative patientinnenorientierte Verfahren wie der Periduralanästhesie ersetzt werden konnten. Die Geburtshilfe hat insgesamt einen erheblichen konzeptionellen Wandel vollzogen. Während in den fünfziger Jahren Geburten streng ärztlich geleitet wurden, später nicht selten programmierte Geburtsverläufe angestrebt wurden, so ist die heutige Geburtshilfe, vor allem bei unauffälligen und nichtpathologischen Verläufen, stärker hebammenorientiert; den Wünschen und Vorstellungen der Gebärenden wird besonderer Respekt entgegengebracht. 

In anderen Bereichen, wie z.B. der Entwicklung der Häufigkeit des Kaiserschnitts (Sectio caesarea) erscheint eine abschliessende Beurteilung heute gar nicht möglich, weil man sich vermutlich derzeit auf einer Teiletappe mit weiter zu erwartendem Progress befindet. Zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts war der Kaiserschnitt noch mit grossen Risiken verbunden und man wagte kaum, ihn auszuführen; im Zeitraum zwischen 1896 und 1900 weisen die Archive der Basler Frauenklinik lediglich fünf Kaiserschnitte aus. Auch in den dreissiger Jahren wurde der Eingriff noch vergleichsweise selten vorgenommen (42 Kaiserschnitte im Jahr 1937; das waren 2.1% aller Geburten). 1990 war die Kaiserschnittrate auf 17.6% angestiegen. Der internationalen Literatur der damaligen Zeit kann man entnehmen, dass eine Sectiorate von mehr als 10-15% nicht zu rechtfertigen sei. Aus heutiger Sicht, in der universitäre Frauenkliniken Sectioraten zwischen 25 und 30% aufweisen, erscheint aber auch diese noch nicht so lange zurückliegende Forderung, bereits überholt. Vermutlich ist diese Entwicklung, die jüngsten Tendenzen in der Geburtshilfe folgt (u.a. grundsätzlich defensive Einstellung vieler Geburtshelfer, Angst vor vaginal-operativen Eingriffen, „Wunschsektio“), noch längst nicht abgeschlossen. In manchen Institutionen sind Sectioraten bis zu 50% bereits keine Seltenheit mehr. Es muss nicht besonders betont werden, dass in der Geburtshilfe der fünfziger Jahre die Wunschsektio, also die Durchführung eines Kaiserschnitts, der medizinisch nicht als notwendig erachtet wird, sondern allein auf Wunsch der werdenden Mutter durchgeführt wird, auch nicht im Ansatz diskutiert worden wäre.

Wandlungen der akademischen Lehre
Neben dem klinischen Alltag hat in den letzten Jahrzehnten ein weiterer Bereich, der seit jeher ein besonders wichtige Eckpfeiler jeder Universitätsklinik darstellt, einen erheblichen Wandel erlebt: die akademische Lehre. Auch hier ist der status quo zweifellos nur eine Zwischenstation zu weiteren zukünftigen Entwicklungen. 

In der Ordinariatszeit Theodor Kollers lag die Vermittlung des gesamten Stoffgebietes des Fachs üblicherweise in einer (seiner) Hand. Die Vorlesungen wurden klassisch als Frontalunterricht gestaltet. Phantomkurse, insbesondere das Einüben auch schwieriger geburtshilflicher Manöver, gehörte traditionell zum Lehrplan. Im Vergleich zu dieser Zeit wird das Fachgebiet heute von einer Vielzahl spezialisierter Dozenten gelehrt; dieses erfordert eine gute Koordination, um der Gefahr von Überschneidungen einzelner Themen zu entgehen.

Die heutige universitäre Didaktik sieht nicht mehr nur die „klassischen“ Frontalvorlesungen, sondern in zunehmender Anzahl auch Tutoriate („problemorientiertes Lernen“) und Kleingruppenunterricht vor. Aus diesem Didaktikkonzept folgt, dass die Lehre heute zwangsläufig auf den Schultern vieler Klinikmitarbeiter liegt. Innovative Prüfungskonzepte wie „OSCE“ (Objective Structured Clinical Evaluation) müssen von einer Vielzahl von Prüfern betreut werden; auch die Abnahme von Prüfungen wird also heute nicht mehr nur von den Lehrverantwortlichen allein geleistet. OSCE ist ein Prüfungskonzept, bei dem unter Einsatz von Simulationspatienten, Statisten, Phantomen und elektronischen Medien eine praxisorientierte Prüfung in Form eines Stationsparcours erfolgt; hier wird nicht nur theoretisches Wissen, sondern vor allem auch die klinische Kompetenz des Prüflings berücksichtigt (z.B. praktische Fähigkeiten, die Bewältigung ärztlicher Routinen und kommunikative Fertigkeiten). In naher Zukunft wird auch die Umsetzung der sogenannten „Bologna-Reform“ (mit der Bologna-Deklaration von 1999 begann die Etablierung des sogenannten einheitlichen europäischen Hochschulraumes) zweifellos neue und tiefgreifende Veränderungen der universitären Lehre mit sich bringen. 

Unabhängig von der zeitlichen und personellen Mehrbelastung, die üblicherweise mit der Implementierung neuer Lehrkonzepte einhergeht, muss auch noch darauf hingewiesen werden, dass die Zahl der zu Unterrichtenden in den letzten Jahren stetig angestiegen ist. Im Herbstsemester 2007 war mit 2008 immatrikulierten Studierenden im Fachgebiet Medizin ein bisheriger Höhepunkt erreicht (im Wintersemester 2000/2001 waren es noch 1298 Studierende). Zum Vergleich: zu Beginn unseres historischen Rückblicks waren in Basel „lediglich“ 657 Medizinstudenten immatrikuliert (Wintersemester 1960/61). 

Mit der breiten Nutzung des Internets haben sich die Gewohnheiten der Informationsbeschaffung (Lernende) auf der einen, und als Reaktion darauf auch die Prinzipien der Informationsvermittlung (Lehrer) auf der anderen Seite nachhaltig geändert. Sogenannte e-learning-Projekte machen heute die Inhalte der Lernzielkataloge auch im Internet verfügbar. So ist die Universitäts-Frauenklinik Basel Mitbetreiber von EGONE, einem e-learning-Portal, das den Lernzielkatalog der Frauenheilkunde und der Neonatologie vollständig abdeckt (das Akronym steht für “e-learning for gynecology, obstetrics, neonatology, endocrinology“). Die Inhalte von EGONE werden in der Schweiz von den Dozierenden der medizinischen Fakultäten der Universitäten Zürich, Bern, Basel und Lausanne erarbeitet. 

Wenn man die Situation der heutigen universitären Lehre mit der der fünfziger Jahre vergleicht, muss noch ein weiterer interessanter Aspekt genannt werden. Offene Kritik erfolgte damals immer unidirektional (vom Lehrer zum Studierenden). Für die Generation Theodor Kollers wäre es undenkbar gewesen, dass ihre Lehre von der Studentenschaft evaluiert, oder sogar offen kritisiert wird. Heutige Dozenten sind sich bewusst, dass sie mit ihren Lehrleistungen im Wettbewerb beurteilt werden und letztlich entscheidend zum Renommee einer Hochschule beitragen.