Anatom
Der Anatom steht breitbeinig da, die Füsse in schwarzen Schlüpfern, die an Hausschuhe erinnern. Über den zu kurzen weissen Hosen, welche seine geschwollenen Knöchel freigeben, und dem dunkelbraunen Pullover trägt er eine blaue Arbeitsschürze. Er wirkt athletisch, zusammen mit der Haltung der Arme und der grossen, vorne mit Zacken versehenen Zange bekommt sein kräftig wirkender Körper jedoch etwas Bedrohliches. Neben der Zange wird er durch das Präparierglas in der anderen Hand und einem Knochen in der Schürzentasche als Anatom erkennbar gemacht. Zu seiner Arbeitskleidung gehört ausserdem ein weisses Tuch, das er vor Mund und Nase gebunden hat und weshalb er auch „Chirurg" genannt wurde.
Bemerkenswert ist seine Kopfhaltung: Er hat den Kopf im Vergleich zum Oberkörper unnatürlich stark nach rechts abgedreht, so dass wir sein Gesicht genau im Profil sehen. Die im Nacken kurzen Haare sind nach hinten gekämmt und zeigen ausgeprägte Geheimratsecken. Die blaugrauen Augen, die wir im Profil sehen, erinnern durch die auffällige Mandelform an das Auge als Hieroglyphe, das beim Archäologen abgebildet ist. Die starke Ausbuchtung des Atemschutzes lässt eine grosse Adlernase vermuten, was wiederum eine Verbindung zum Archäologen schafft, diesmal zur Hieroglyphe des Geiers.
Das Ohr hingegen, das durch die Profilansicht sehr gut sichtbar ist, findet eine Doppelung im Präparat. Dieses sieht aus wie ein doppeltes Ohr mit einem Schwänzchen und kann wohl nicht eindeutig identifiziert werden. Neben der Ähnlichkeit zu einem Ohr erinnert es an Embryonen, der Schwanz wäre jedoch viel zu lang. Ausserdem würde die Doppelung dann eine Missbildung bedeuten. Durch die Position des Präparats kann auch eine Parallele zum Herz hergestellt werden, welche durch die Herzform noch verstärkt wird. Um eine eindeutige Darstellung eines Herzes handelt es sich jedoch nicht. Vermutlich soll keine bestimmtes Organ oder Körperteil dargestellt werden, sondern ein symbolische Form für Präparate. Die Undefinierbarkeit betont das leicht Gruslige wie auch Faszinierende, das ihnen für Laien anhaftet, und will vielleicht auch auf die Missbildungen, die in Präpariergläsern ausgestellt werden, anspielen. Möglich ist auch eine Adaption des Begriffs „Herzohr" - zwei kleine Ausstülpungen am Herz -, den Stoecklin vielleicht kannte und hier eine eigene Interpretation dieser seltsamen Bezeichnnung schuf. Der Knochen ist ebenfalls keine wissenschaftlich genaue Darstellung, soll aber eindeutig ein menschlicher Oberschenkelknochen sein.
Das bei fast allen Figuren zu findende Objekt auf dem Boden ist beim Anatom ein Glaszylinder, der an ein Präparierglas erinnert, jedoch sehr abstrakt bleibt und an die Formen in Stoecklins Stillleben „Die drei Körper" denken lässt. Der Zylinder ist genau einem Holzstück angepasst, das an dieser Stelle einsetzt wurde, und kaschiert so diese Korrektur.
Durch seine Frisur hat der Anatom gewisse Ähnlichkeiten mit Wilhelm His (1831-1904), dem ersten Inhaber des Basler Lehrstuhls für Anatomie, nachdem sich diese als eigenes Fach von der Botanik abgelöst hatte. His ist vor allem bekannt für „seine grundlegenden Arbeiten auf dem Gebiet der Embryologie". Ob Stoecklin Bilder von Wilhelm His kannte, zum Beispiel aus dem Anatomischen Museum, und in seinem Bild bewusst oder unbewusst eine Parallele herstellte, ist heute schwer einzuschätzen.