Kunstkritiker

Der Kunstkritiker oder -historiker ist gerade dabei, ein Bild fachmännisch zu begutachten. Die gerunzelte Stirn und der verzogene Mund zeugen von den grossen Denkanstrengungen, die diese anspruchsvolle Tätigkeit von ihm abverlangt. Wir sehen nur die Rückseite der gerahmten Tafel, die er vor sich hält, auf einer Etikette ist sie jedoch mit „Renoir" beschriftet. Dass er sie durch eine Brille mit schwarzen Gläsern betrachtet, scheint ihn nicht von seiner kritischen Betrachtung abzuhalten.

Der Mann scheint viel Wert auf seine Kleidung zu legen: er trägt einen schmal geschnittenen weissen Kittel, darunter ein blaues Hemd mit spitzem Kräglein und eine schwarze Fliege. Ausserdem wurde er vom Maler mit stark gebauschten Knickerbockern, sogenannten Plusfour, ausgerüstet. Diese über den Knien gebauschten Golfhosen kamen ab 1930 auf und müssen also zur Zeit der Entstehung der „Fakultäten" sehr modisch gewesen sein. Darunter trägt er karierte Strümpfe und an den Füssen braune „Loafers" mit einer gefransten Haferllasche , die ihn ebenfalls als jemanden kennzeichnen, der sich gerne nach den neuesten Modetrends kleidet. Der Kunstkritiker wird als eitler Modegeck dargestellt, die übertrieben gebauschten Hosen, die an Clownhosen erinnern, lassen ihn aber lächerlich aussehen und machen sich lustig über seine Eitelkeit. Abgesehen von seiner distinguierten Kleidung sieht der Mann nicht gerade vorteilhaft aus, er ist schmächtig, hat einen kleinen, kahlen Kopf, eine eingedrückte Nase und verkniffene Lippen.

In der Brusttasche hat er einen Füller eingesteckt, das Notizpapier wird jedoch ersetzt durch eine Rolle Klopapier, die ihm an einer Schnur umgehängt wurde. Worauf damit genau angespielt wird, bleibt rätselhaft. Auf jeden Fall verstärkt sie noch einmal das negative Bild dieses Akademikers. Das Klopapier gehört ausserdem in die Reihe der mehrmals auftretenden analen Attribute, wie der Nachttopf und der Klistierspritze beim Arzt oder in dem braunem Häufchen beim Chemiker. Solche Anspielungen kommen in Karikaturen häufig vor, waren aber 1930 durch die Aktualität von Freuds Psychoanalyse vermutlich noch verbreiteter. Einen Nachttopf und Kot finden wir zum Beispiel auch in George Grosz' berühmten Bild „Die Stützen der Gesellschaft" von 1926.

Ebenso irritierend wie das Klopapier ist der Schnuller am Boden. Zusammen mit den Hosen und dem Klopapier macht er den Kritiker zum „Bubi". Stoecklin, der vom wortreichen Sprechen über Kunst nicht viel hielt, zeige den Kunstkritiker „als hässlichen Schöngeist, als blinden und infantilen Schmierfink", interpretiert Vögele die Darstellung.

Entfernt erinnert Stoecklins Kunstkritiker an Paul Ganz, einen Basler Kunstgeschichts-Professor dieser Zeit, von dem es auch eine Karikatur gibt. Vermutlich handelt es sich aber vielmehr um die Darstellung eines Typen, wie wir ihn auch in anderen Karikaturen dieser Berufsgattung vorfinden: der Kunsthistoriker als jemand, der mit seiner eleganten Kleidung, einer runden Brille und ernster Miene als hochintellektuell erscheinen möchte.